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Psychologie der Vergeltung: Rache ist bittersüß

Racheakte gelten als verpöntes Relikt aus alten Tagen. Doch auch heute sind Vergeltungstaten noch weit verbreitet. Warum? Und kann Rache tatsächlich Gerechtigkeit schaffen?
Voodoopuppe

Kaum etwas beflügelt die menschliche Fantasie so sehr wie der Drang, eine widerfahrene Ungerechtigkeit zu vergelten. Rache ist so diabolisch wie kreativ – und erstaunlich weit verbreitet. Eine spontane Miniumfrage in meinem Bekanntenkreis offenbart, wozu auch freundliche und warmherzige Zeitgenossen mitunter fähig sind: Ein Nachbar gesteht, wie er heimlich Sand in den Tank des Hochzeitsautos eines Bräutigams einfüllte, nachdem dieser ihm zuvor übel mitgespielt hatte. Eine befreundete Kellnerin verrät, wie sie unfreundlichen Gästen schalen Wein vom Vortag serviert oder sie mit mickrigen Portionen abspeist. Und eine Kollegin berichtet, wie sie es einem früheren Stalker heimzahlte: mit selbst gemachtem Wassereis, zubereitet mit Urin statt Fruchtsaft. Fast jeder Befragte hatte seine eigene kleine Rachegeschichte auf Lager – vorgetragen mit einer Mischung aus Verlegenheit und heimlichem Stolz.

Bei Rache geht es darum, dem Verursacher eines (angeblich oder tatsächlich) erlittenen Unrechts gezielt zu schaden. Bereits im Tierreich ist das keine Seltenheit: Rhesusaffen greifen ihre Artgenossen an, wenn diese einen Futterfund vor ihrer Sippe verheimlichen. Löwen verfolgen und attackieren Schakale, die ihnen die Beute streitig machen.

Auch Menschen rechnen immer wieder auf blutige Art und Weise miteinander ab: Laut einer Untersuchung der Polizeibehörde von New York City spielt Rache bei vier von zehn Morden im Stadtraum eine Rolle. Vergleichbare Studien aus Deutschland fehlen bislang. Bei Terroranschlägen und Amokläufen ist Rache ebenfalls ein wichtiges Motiv. Allerdings handelt es sich dabei meist um »stellvertretende« Taten. Schließlich sind die Opfer oft Unschuldige, die den vorangegangenen Missstand nicht ausgelöst haben.

Zu diesen brutalen Ausnahmetaten gesellen sich zahlreiche kleine, ganz alltägliche Racheakte. Sie kommen in der Liebe vor, etwa um eine Respektlosigkeit des Partners zu erwidern, indem man dem Gegenüber die kalte Schulter zeigt, fiese Bemerkungen streut oder sich gar auf einen Seitensprung einlässt. Auch im Job sind kleinere Vergeltungsaktionen verbreitet: hier ein böses Gerücht über eine Kollegin, dort ein absichtlich schlampig ausgeführter Auftrag.

Rache genießt einen zweifelhaften Ruf. So verbreitet sie ist, so verpönt ist sie auch. Das zeigt ein Blick in Philosophie und Religion: Platon vergleicht in seinen Schriften ungestüme Rächer mit Tieren. Christentum, Islam und Judentum lehnen die Rachsucht gleichermaßen ab – oder setzen ihr zumindest enge Schranken. Schon der alttestamentarische Rechtssatz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« war kein Aufruf zu uferloser Rache, ganz im Gegenteil: Es ging vielmehr darum, bei der Vergeltung maßvoll zu bleiben und die Schwere der Ausgangstat nicht zu überschreiten. Das moderne Justizwesen wiederum hat den Anspruch, Rachegelüste einzuhegen – und durch ein geordnetes, rechtsstaatliches Verfahren zu ersetzen.

Vergeltungsakte sollen in erster Linie eine Botschaft überbringen

Handelt es sich bei der Rache also bloß um ein archaisches Relikt aus grauer Vorzeit, das in zivilisierten Kreisen keinen Platz mehr hat? Ganz so einfach ist es nicht. Denn aus psychologischer Sicht können Racheakte durchaus zielgerichtetes, rationales Verhalten sein, auch heute noch. »Starke Rachegefühle treten vor allem nach erlebten Respektlosigkeiten auf, wenn man also kommuniziert bekommt: ›Du bist schwach, dich muss man nicht ernst nehmen‹«, erklärt der Münchner Sozialpsychologe Mario Gollwitzer, der seit Jahren zum Thema forscht. Rache soll eine eindeutige Nachricht überbringen: »Mach das nie wieder mit mir!«

Tatsächlich erlebt so mancher Rächer nach einem erfolgreichen Gegenschlag zunächst positive Gefühle. Das legt eine viel zitierte Studie nahe, die der Schweizer Neurowissenschaftler Dominique de Quervain zusammen mit seiner Arbeitsgruppe in der Fachzeitschrift »Science« veröffentlichte. Seine Versuchspersonen sollten in Zweierteams um Spielgeld zocken. Es handelte sich um ein Vertrauensspiel: Spieler A sollte Spieler B zehn seiner eigenen Münzen leihen. Tat er das, wurde der Einsatz verfünffacht und die Spieler konnten die 50 Münzen untereinander hälftig aufteilen. B hatte jedoch auch die Möglichkeit, das Geld einfach zu behalten, so dass sein Gegenüber leer ausging. In diesem Fall hatten die betrogenen Spieler die Chance, es ihren abtrünnigen Partnern heimzuzahlen. Sie konnten deren Kontostand kürzen. Von diesem Angebot machten sie rege Gebrauch – selbst dann noch, als sie je eine Münze aus eigener Tasche abdrücken mussten, um zwei Münzen ihres Gegenübers verschwinden zu lassen. Die Genugtuung über die erfolgreiche Vergeltung spiegelte sich im Gehirn wider. Bei den Rächern ließ sich eine erhöhte Aktivierung im dorsalen Striatum feststellen, einem Areal, das zum neuronalen Belohnungszentrum gehört. Das ergab die Messung mit einem speziellen bildgebenden Verfahren, der Positronenemissionstomografie (PET).

Ist Rache also süß? Zumindest in dieser Studie bewahrheitete sich das alte Sprichwort. Mehr noch, die Rache schmeckte offenbar selbst dann noch köstlich, als sie bittere Folgen für den eigenen Geldbeutel hatte. Gratis sind Racheakte auch jenseits des Labors nicht: Im wahren Leben sind sie aufwändig, heikel oder bringen den Rächer erneut in Gefahr – etwa weil anschließend ein weiterer Vergeltungsschlag droht.

Rache liegt eine altruistische Logik zu Grunde

So paradox es klingen mag: Der Rache liegt eine altruistische Logik zu Grunde. Sie ist Ausdruck der Idee, einen Missetäter nicht ungeschoren davonkommen zu lassen und so das »moralische Gleichgewicht« der Gemeinschaft wiederherzustellen. Davon profitiert die Gruppe oftmals mehr als der Rächer selbst, für den die Tat ja mit Mühen und Risiken verbunden ist. »In dieser Hinsicht ähnelt die Gesellschaft einem Büfett mit knappem Angebot«, schreibt Joshua Jackson in einer Überblicksarbeit. Sofern alle Gäste wissen, dass sie Ärger bekommen, falls sie sich eine zu große Portion auf den Teller laden, bleiben sie lieber maßvoll. Dann reicht das Essen für alle. Damit verhindert bereits die Erwartung von Rache viele Regelbrüche – so zumindest das Kalkül.

In eine ähnliche Richtung deuten die Ergebnisse eines Experiments, das Mario Gollwitzer durchgeführt hat. Gemeinsam mit seinen Kollegen Milena Meder und Mandred Schmitt testete er, welcher Aspekt der Vergeltung dem Rächer eher am Herzen liegt: die Botschaft oder der verursachte Schaden. Das Forschertrio ließ seine Probanden dazu mit einem äußerst egoistischen Spielpartner um Geld spielen. Anschließend erfuhren die Teilnehmer, dass sie sich an ihrem abtrünnigen Partner – bei dem es sich in Wahrheit lediglich um ein Computerprogramm handelte – rächen durften: In diesem Fall müsste dieser sich einen Haufen unappetitlicher Fotos auf dem Monitor ansehen. Ein gutes Drittel der Versuchspersonen ging auf das Angebot ein, woraufhin sie über ein Chatfenster später eine reumütige Nachricht von ihrem angeblichen Mitspieler erhielten: »Ich musste mir diese ekligen Bilder ansehen … Nun, das ist wohl der Preis dafür, dass ich den Betrag so unfair aufteilen wollte.« In einer Vergleichsgruppe konnten sich die Teilnehmer ebenfalls rächen, allerdings zeigte sich der virtuellen Partner hier auch nach der Strafaufgabe noch uneinsichtig und sendete keine Reuebotschaft.

Das Ergebnis der Studie fiel eindeutig aus: Am zufriedensten waren jene Versuchspersonen, deren Mitspieler Reue zeigten. Hatten die Teilnehmenden hingegen den Eindruck, dass ihre Peiniger den Zweck der Revanche nicht verstanden hatten, waren sie auch danach noch aufgebracht. Bei einer »erfolgreichen« Rache geht es also offenbar nicht darum, den anderen leiden zu sehen, schlussfolgern die Autoren der Studie. Stattdessen sei es den Rächern wichtig, dass die Botschaft ihrer Rache wirklich ankommt.

Am Ende bleibt oft ein bitterer Beigeschmack

Im echten Leben ist das allerdings deutlich schwieriger als im Labor. »Häufig kommt die Botschaft des Racheakts nicht an wie erwartet«, erklärt Gollwitzer. »Das liegt daran, dass Täter und Opfer ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie schwer wiegend die Tat war.« Die US-Psychologin Arlene Stillwell vom SUNY College in Potsdam (New York) und ihr Team konnten diese These mit einem Experiment stützen. Ihre Testpersonen sollten nacheinander zwei Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben niederschreiben: eine, in der sie sich an einem Mitmenschen gerächt hatten – und die umgekehrte Variante, bei der sie selbst Ziel eines Racheakts geworden waren. Die Befragten hatten kaum Mühe, sich an solche Episoden zu erinnern; meist ging es um einen Streit mit Freunden oder verflossenen Liebschaften. Wie sie auf den früheren Konflikt blickten, hing jedoch stark von ihrer Rolle darin ab: »Die Rächer stellten den Racheakt als verhältnismäßig dar, während die Empfänger ihn als übertrieben bezeichneten«, so das Resümee der Forscherin. Die Befragten empfanden das ihnen widerfahrene Leid heftiger als jenes, das sie anderen zufügten.

»Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein«Mohandas Karamchand Ghandi, Pazifist

Dieser Asymmetrie ist es geschuldet, dass Rache nur selten einen Konflikt befriedet: Beide Parteien fühlen sich als Opfer – entweder der Ausgangstat oder der (als überzogen erlebten) Revanche. Deswegen führt ein Gegenschlag meist nicht zum ersehnten Ausgleich, sondern zu noch mehr dicker Luft. Im schlimmsten Fall entsteht eine Spirale der Aggression, bei der sich beide Seiten gegenseitig hochschaukeln. So gerät bei festgefahrenen Streitigkeiten oder Familienfehden nach langen Perioden der Gewalt immer mehr in Vergessenheit, worum es ursprünglich einmal ging. »Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein«, soll Mohandas Karamchand einmal den bekannten Bibelvers kommentiert haben.

Auch viele Laborstudien bescheinigen Rache letztlich eher gemischte Folgen für den Gefühlshaushalt, so etwa eine Untersuchung des Sozialpsychologen Kevin Carlsmith von der Colgate University (New York) und seines Teams. Ähnlich wie in der oben erwähnten Schweizer Studie erhielten die Teilnehmer die Chance, es einer betrügerischen Mitspielerin heimzuzahlen und ihren Kontostand sinken zu lassen.

Carlsmith interessierte dabei weniger, was die Teilnehmer im Moment ihrer Rache empfanden, als vielmehr, wie sie sich nach ihrer Tat fühlten. Das Ergebnis erstaunte: Zwar waren die Rächer allesamt überzeugt, dank ihres Gegenschlags nun besser gelaunt zu sein, als sie es sonst gewesen wären. Tatsächlich war aber das Gegenteil der Fall. Wer Rache walten ließ, fühlte sich zehn Minuten danach messbar schlechter als die Mitglieder einer Kontrollgruppe, denen die Gelegenheit zur Revanche verwehrt blieb.

Rache löscht hitzige Gefühle also ebenso schlecht wie Öl ein Feuer

Von einer kathartischen, also reinigenden Wirkung konnte also keine Rede sein. Das Versprechen der Rache, Erleichterung zu bringen, blieb ein leeres. Stattdessen sorgte die Tat für einen emotionalen Kater. Die Autoren konnten zeigen, dass anhaltende Grübeleien hierfür verantwortlich waren: Wer Rache walten ließ, dessen Gedanken kreisten auch später noch um das widerfahrene Leid. Wer keine Chance auf Vergeltung bekam, konnte sich von dem Erlebten hingegen viel schneller lösen und sich anderen, schöneren Gedanken zuwenden. Rache, so scheint es, löscht hitzige Gefühle demnach ebenso schlecht wie Öl ein Feuer.

Was eine gute Rache-Story ausmacht

Moderne Staaten beharren deshalb zu Recht auf ihrem Gewaltmonopol. Statt bei Ungerechtigkeiten selbst Hand anzulegen, soll der Wunsch nach Ausgleich an einen unpersönlichen, nicht involvierten Dritten übertragen werden. Keine heißblütige Vergeltungstat, sondern ein richterlicher Urteilsspruch soll Gerechtigkeit einkehren lassen. Aber auch dieses Vorgehen ist nicht immer emotional befriedigend. Es kann der Sehnsucht nach Vergeltung nicht völlig die Luft nehmen.

Davon zeugen schon die zahlreichen kulturellen Verarbeitungen dieses zwiespältigen Impulses. Der Durst nach Rache spielt eine Rolle in klassischen Werken wie Shakespeares »Hamlet« oder Mozarts »Zauberflöte«. Auch viele Spielfilme zeigen regelrechte Racheorgien, etwa Quentin Tarantinos »Kill Bill« oder die schwarze Komödie »Wild Tales«. Mit den Rape-and-Revenge-Filmen existiert ein ganzes B-Movie-Genre, in dem die Filmheldinnen nach einer erlittenen Vergewaltigung den Täter blutig zur Strecke bringen. Doch warum ist das Rachemotiv in Kunst und Kultur überhaupt so allgegenwärtig? Fiebern die Zuschauer mit den Racheengeln auf der Leinwand so sehr mit, weil ihnen die Chance auf eigenhändige Revanche in einer regeldurchzogenen Welt meist verwehrt bleibt?

Was genau die Rachefeldzüge im Film so anziehend macht, beschrieben der Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der University of Virginia in Charlottesville und sein Team in einer bislang unveröffentlichten Studie. Freiwillige sollten sich kurze Ausschnitte aus Hollywood-Filmen anschauen, in denen den Hauptfiguren ein Unrecht geschah. Anschließend sollten sie aus einer Reihe von alternativen Enden dasjenige wählen, welches sie als besonders befriedigend empfanden. Das Fazit der Autoren ist eindeutig: »Die Teilnehmer wollten nicht nur, dass das Opfer gedanklich abschließen kann. Sie wollten, dass der Täter leidet.« Drei Kriterien waren für ein besonders gelungenes Filmende ausschlaggebend: Der Bösewicht sollte erstens in ähnlicher Weise wie sein Opfer leiden, zweitens sollte er dadurch seinen Fehler einsehen, und drittens sollte das Opfer entschädigt werden.

»Rache ist eine Art Alarmsystem für erlebtes Unrecht und zeigt, dass unser Gerechtigkeitssensor funktioniert«Mario Gollwitzer, Sozialpsychologe

So eine vollumfängliche Wiedergutmachung ist meist nur im Reich der Fiktion möglich. Im wahren Leben muss man sich fast immer mit der Tatsache abfinden, dass die Gerechtigkeit in einer Schieflage bleibt, man den Vorfall nicht ungeschehen machen kann – und der Übeltäter seine Schuld nicht einsehen will. Deswegen überwiegt in der Realität meist die bittere Seite der Rache, nicht die süße. »Psychologisch erfüllt der Wunsch nach Rache dennoch eine wichtige Funktion«, meint Mario Gollwitzer. »Es ist eine Art Alarmsystem für erlebtes Unrecht und zeigt, dass unser Gerechtigkeitssensor funktioniert.«

Als gesellschaftlich anerkannte Alternative gilt, sich mit dem Täter auszusöhnen und ihm die Tat zu vergeben. Doch auch dieser Weg ist nicht frei von Tücken: »Man muss aufpassen, dass das nicht als Zeichen von Schwäche interpretiert wird – und dann weitere Ungerechtigkeiten folgen«, warnt Gollwitzer. Außerdem ist die Vergebung längst nicht so selbstlos, wie oft vermutet wird. Wer anderen verzeiht, präsentiert sich damit schließlich als moralisch überlegen und stellt sich so über den Täter. Mit dieser kleinen Genugtuung kann man es dem anderen zumindest gedanklich heimzahlen – und im besten Fall den Konflikt befrieden, ohne sein Gesicht zu verlieren. Aus diesem Grund gehen Gollwitzer und seine Kollegen davon aus, dass die Vergebung eine Art maskierte Rache darstellen kann. Oder, wie der Schriftsteller Oscar Wilde es ausdrückte: »Vergib deinen Feinden. Nichts ärgert sie mehr!«

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