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  • Größe und Grenzen objektiver Erkenntnisse

    28.12.2006, Michael Habecker, Bruckmuehl
    Sehr geehrte Gehirn&Geist Redaktion,

    Nach der anregenden und erfrischenden Lektüre ihres Dossiers 1/2006 „Angriff auf das Menschenbild“ möchte ich ihnen ein paar Gedanken und Anregungen dazu schicken. Wenn man unter „Wissenschaft“ und „real existierend“ lediglich dasjenige versteht was einen „einfachen Ort“ hat, worauf man mit dem Finger zeigen kann und sich in der äußeren Welt objektiv und monologisch untersuchen lässt, dann gibt es so etwas wie „Geist“ gar nicht, weil dieser keinen einfachen Ort hat. Dann gibt es allerdings auch keine Gedanken und Gefühle, und auch keine Quadratwurzel aus –1, weil all dies „Gegenstände“ innerer Betrachtung sind. In diesem Sinne wäre auch Mathematik keine Wissenschaft. Eine nicht-reduktionistische Wissenschaft hingegen wird daher sowohl innere wie auch äußere Erkenntnis“objekte“ zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen, und diese mit ihren jeweiligen Erkenntnismethodiken, Erkenntnisbereichen und auch Erkenntnisgrenzen darstellen. Das „Ereignis“ Gedanke beispielsweise hätte demnach eine innere Dimension, die z.B. die Phänomenologie (z.B. Husserl) mit einer Methodik wie Introspektion untersucht, und eine äußere Komponente, welche beispielsweise durch Gehirnscanning und Neurophysiologie betrachtet wird. Beides bringt nicht aufeinander reduzierbar Erkenntnisse. Weiterhin hat das Ereignis „Gedanke“ auch eine intersubjektive Dimension, eine kulturelle Komponente, welche z.B. durch Hermeneutik, die Kunst des sich Verstehens, untersucht werden kann (z.B. Habermas), und eine interobjektive Komponente, welche z.B. durch Systemtheorie (z.B. Luhmann) untersucht wird. All dies sind nicht aufeinander reduzierbare Perspektiven auf EIN Ereignis (Gedanke) – Perspektiven einer ersten Person (subjektiv), einer zweiten Person (intersubjektiv), und einer dritten Person (objektiv).

    Vor diesem Hintergrund ist es ebenso interessant wie spannend, die Beiträge des Dossiers zu verfolgen. Der erste Beitrag "Wo Gott wohnt" konzentriert sich dabei auf eine Perspektive einer dritten Person und der Suche nach einem „Gottesmodul“. Doch eine noch so genaue Kenntnis eines derartigen (objektiv im Gehirn feststellbaren) Moduls wird einem niemals die eigene Phänomenologie einer derartigen Erfahrung liefern können, so wie auch das Messen ihrer Gehirnströme beim Lesen dieses Beitrages ihnen nichts (in Begriffen einer ersten Person Singular „ich“) darüber aussagt, wie sie sich gerade fühlen. Diese perspektivische Einseitigkeit zieht sich auch durch den zweiten Beitrag "Die Kopflastigkeit des Glaubens" wenn versucht wird, Subjektivität lediglich in objektiven Begrifflichkeiten zu beschreiben. Auch im dritten Beitrag "An der Schwelle zum Tod" wird die Frage gestellt, ob die „Bilder an der Schwelle zum Tod nur die Folge außergewöhnlicher Hirnprozesse“ sind, was bei einer Bejahung zum bereits beschriebenen Absolutismus einer objektiven Betrachtungsweise über die subjektiven (und intersubjektiven) Erkenntnisbereiche führt. Folgerichtig müsste jemand der dies behauptet sein eigenes Denken leugnen, das dieses Denken und die Äußerungen von Gedanken (außer als neuronale Muster und Strukturen) nicht existieren. Der Autor des Beitrages verwendet jedoch auch bei der Formulierung seiner Gedanken Worte, die ihren Ursprung in einem inneren Erleben haben. Eine perspektivische Ausgewogenheit wird dann im Dialog "Licht am Ende des Tunnels" hergestellt, wo von den Dialogpartnern objektive („auch solche Fragen können Hirnforscher präzise untersuchen“), subjektive („sie blicken in die Augen von Menschen und wissen genau: Das haben die tatsächlich so erlebt“) und auch intersubjektive („es gibt ja sogar Kleinkinder mit Nahtod-Erlebnissen. Denen wird man wohl kaum vorwerfen können, dass sie kulturell auf eine bestimmte Sterbeerfahrung vorgeprägt sind“) Erkenntnisbereiche jeweils voneinander differenziert, und damit als voneinander unterschieden erkennbar werden. Der dann folgende Artikel "Gleichtakt im Neuronennetz" nähert sich dem Thema wieder von Außen („Neuronennetz“), und stellt die Frage, ob Tiere Bewusstseins haben. Stellt man die Frage noch grundsätzlicher, und unterscheidet inneres und äußeres Erleben, dann wird man Tieren wohl Innerlichkeit nicht absprechen können, und hat es lediglich mit einem "nur" graduellen Unterschied von Innerlichkeit zwischen Tieren und Menschen zu tun, mit einer Zunahme von Tiefe von Bewusstheit im Verlauf der Evolution, und kann sich dann überlegen wie man „Bewusstseins“ definiert. "Das Ich im Schneckenhaus" weist auf die Grenzen des autonomen Ichs hin, und damit auch auf die Grenze von Subjektivität und Phänomenologie, und bei der Aufdeckung dieser Grenzen spielen objektive Erkenntnisse wie die der Neurobiologie eine bedeutende Rolle, aber auch die Erkenntnisse von Hermeneutik und Strukturalismus, mit der Aufdeckung unbewusster individueller und kultureller Hintergrundstrukturen, welche die individuelle Wahrnehmung prägen, ohne dass dies aus den Phänomenen dieser Wahrnehmung ersichtlich würde. Diese Art eines perspektivischen Pluralismus, und damit auch einer Wissenschaft die alle Erkenntnismethodiken zulässt, wird auch im Beitrag "Ich denke was, was du nicht denkst", angesprochen: „Es ist ein und dieselbe Realität, die wir einmal psychologisch und einmal physikalisch beschreiben“, und auch im Folgebeitrag "Von Fledermäusen und der Freiheit des Willens" unter Verweis auf die Identitätstheorie von Gustav Theodor Fechner: „ ... dass hier zwei unterschiedliche Formen des Zugangs vorliegen. Erfolgt der Zugang aus der Innenperspektive der ersten Person – erlebt man also die Wärme der Sonne auf der Haut – dann sprechen wir von Vorgängen im Bewusstsein. Nehmen wir dagegen derselben Aktivität gegenüber die Außenperspektive der dritten Person ein, dann können wir diese als neuronalen bzw. allgemein materiellen Vorgang beschreiben ... zwei Seiten derselben Medaille.“ Um diese „Außenperspektive“ mit ihrer Aufdeckung von Grenzen der Innenperspektive geht es dann auch in den folgenden Beiträgen "Gedankenschranken", "Im Hirn des Verbrechers" und "Alles nur Geraten". Ebenfalls ein Ergebnis der Erkenntnisse der Außenperspektive von Bewusstheit sind die Möglichkeiten von "Gedankenkontrolle" (z.B. durch chemische Manipulationen), das Thema des folgenden Beitrages, mit dem wichtigen Hinweis auf Grenzen dieser Außenperspektive ihrerseits: „Auch wenn ein Proband im Tomografen ganz verschiedene Informationen verarbeitet, zeigt sein Gehirn oft ähnliche Aktivitätsmuster. Es ist daher kaum möglich, aus einem Hirnbild zu schließen, welche Information genau vorlag.“ Um das zu erfahren, so könnte man hinzufügen, braucht es eine subjektive bzw. intersubjektiv/dialogische Perspektive, ich muss den Probanden (intersubjektiv) fragen, was er oder sie (subjektiv) erlebt hat. Interessant dann auch die Diskussion im Beitrag "Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschwürde", mit den genannten Perspektivwechseln und ihrer Wechselwirkung: „Ständig nehmen die Hinweise zu, dass unsere Erfahrungen selbst die physischen Hirnstrukturen verändern, und zwar nachhaltig.“ Subjektivität wirkt auf Objektivität wirkt auf Intersubjektivität wirkt auf Objektivität usw. ein, ein sich wechselseitiges Geschehen, dem eine einzige Perspektive allein nicht gerecht werden kann. Mit einem „klassisch“ subjektiven Phänomen, der Lüge, beschäftigt sich dann der Beitrag "Kurze Beine? Haben wir alle!", und der Möglichkeit (und den Grenzen) einer objektiven Messung von Lügen. Faszinierend auch die Anfänge einer Verbindung von Biologie und Technik in "Entlassen in die Wirklichkeit". Ethik als ein klassisches intersubjektives Thema – wie wollen wir miteinander leben? – wird dann, wiederum überwiegend aus einer Es-Perspektive einer dritten Person, im Beitrag "Seelenpein in der Maschine" beleuchtet, und mit grundsätzlichen Problemen der Messbarkeit und Darstellung von Gehirnvorgängen beschäftigt sich "Momentaufnahmen des Geistes?". Ein Interview mit Humberto R. Maturana, einem der Gründerväter der Kognitionswissenschaften und einer Neurophänomenologie als eigenständiger Wissenschaft und Perspektive, und ein (objektiver) Blick auf die Arbeitsweise unserer Nervenzellen in Geheimsprache der Neuronen beenden die Artikelserie dieses Dossiers.

    Ich erlaube mir – als eine Zusammenfassung der Punkte auf die es mir ankommt - die Angabe von ein paar Literaturhinweisen des amerikanischen Autors Ken Wilber, dessen Buch Naturwissenschaft und Religion in der Ausgabe 12/99 von Spektrum der Wissenschaft besprochen wurde.

    1. Zum Thema einer integralen Wissenschaft, welche alle Erkenntnismethodiken der Menschheit miteinander vereint, und in ihren jeweiligen Größen und Grenzen darstellt, von Phänomenologie über Strukturalismus über Hermeneutik über Behaviorismus über Kognitions- und Neurowissenschaften über Systemtheorie ...:
    Integral Spirituality Kap. 1: Integral Methodological Pluralism

    2. Leib/Seele Problem
    Integrale Psychologie, S. 195 (das Buch ist übrigens dem oben erwähnten Gustav Theodor Fechner gewidmet).

    3. Meditation und Gehirn
    - Ganzheitlich Handeln, S. 80, und
    - Einfach DAS, S. 98 (hier beschreibt Wilber einen auf Video aufgezeichneten Selbstversuch, wo er sich meditierend an eine EEG angeschlossen hat und aus der Ich-Perspektive meditative Zustandsänderungen beschreibt, bei gleichzeitiger Betrachtungsmöglichkeit objektiver Gehirnstromveränderungen).

    Mit freundlichen Grüssen

    Michael Habecker


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