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Schlafforschung: Tierisch gut geträumt

Warum erzeugt das Gehirn komplexe Traumwelten? Im Tierreich suchen Biologen nach Antworten: unter anderem bei Tintenfischen, Tauben und Spinnen.
Ein weiß-brauner Hund liegt rücklings auf einer weißen Decke. Seine Augen sind geschlossen, die Pfötchen sind in die Höhe gestreckt.
Süß geträumt? Was im Kopf von schlafenden Tieren vorgeht, lässt sich nur schwer herausfinden.

An einem Herbsttag im Jahr 2020 fuhr Daniela Rößler mit einem Auto voller Springspinnen nach Hause. Ihr Labor musste wegen der Covid-19-Pandemie vorübergehend schließen. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tiere, die sie den Tag über auf einem Feld eingesammelt hatte, mitzunehmen. Als sie in der Nacht zufällig nach ihnen sah, baumelten sie regungslos an Seidenfäden. »Das hatte ich noch nie gesehen«, erinnert sich Rößler, Verhaltensökologin an der Universität Konstanz. Bald darauf ging sie mit Kolleginnen und Kollegen zurück ins Feld. »Wir fingen einfach aus Neugierde an, die Spinnen zu filmen«, erzählt sie.

Wieder beobachteten sie das eingangs beschriebene Verhalten – allerdings nur nachts. Bei einer genaueren Untersuchung im Labor mit einer Nachtsichtkamera bemerkten sie einige Monate später nicht nur ein leichtes Zucken der Spinnen, sondern auch, dass sich deren Augen bewegten. Letzteres passiert ebenfalls, während Menschen träumen. Befanden sich die Spinnen also in einem ähnlichen Zustand?

»Vielleicht hat sich Schlaf vor dem Gehirn entwickelt, als eine sehr grundlegende Sache, die auf der Ebene einzelner Zellen erforderlich ist«Daniela Rößler, Verhaltensökologin an der Universität Konstanz

Springspinnen sind nicht die einzigen Tiere, bei denen man in den vergangenen Jahren Hinweise auf Traumphasen gefunden hat. Solche Anzeichen gibt es bei Arten aus dem gesamten Tierreich – von Tauben bis hin zu Tintenfischen. »Wenn wir uns die möglichen Funktionen des Träumens vor Augen führen, ist es durchaus sinnvoll, dass Tiere träumen«, erläutert Rößler. Dennoch bleibt die Frage: Tun sie es so wie wir Menschen? Und falls ja, was geht ihnen dabei durch den Kopf? Das herauszufinden, ist keineswegs einfach.

Um zu träumen, muss man zuerst einschlafen. Laut Rößler kennt man keine Tiere, die ohne Schlaf auskommen. Jüngste Studien belegen, dass er sogar für einfachste Organismen unerlässlich ist. Selbst Quallen, die kein echtes Gehirn besitzen, verhalten sich, als wären sie müde, wenn sie nachts durch Wasserbewegungen in ihren Tanks wach gehalten werden. »Vielleicht hat sich Schlaf vor dem Gehirn entwickelt, als eine sehr grundlegende Sache, die auf der Ebene einzelner Zellen erforderlich ist«, mutmaßt Rößler. Der Zustand könnte es Tieren ermöglichen, sich in Aktivitätsphasen ansammelnde Abfallprodukte und Giftstoffe aus ihrem Nervensystem zu beseitigen, meint sie.

Während Menschen schlummern, wechselt ihre Hirnaktivität ständig zwischen zwei unterschiedlichen Phasen. Die erste ist der REM-Schlaf (rapid eye movement). Dabei bewegen sich unsere Augen, obgleich die Lider fest geschlossen sind. Die Skelettmuskeln zucken leicht, sind aber weitgehend gelähmt, so dass wir uns nicht verletzen. Die meisten Traumzustände und vor allem die lebhaftesten Träume finden in dieser Phase statt. Daneben gibt es den Non-REM-Schlaf, auch Ruheschlaf genannt, in dem wir uns kaum bewegen.

Suche nach anderen Träumern

Einiges deutet darauf hin, dass andere Säugetiere ähnliche Schlafmuster haben wie Menschen. Im Jahr 2022 publizierten Forschende beispielsweise Beobachtungen bei schlafenden Mäusen. Die Gehirne der Nager zeigten eine erhöhte Aktivität jener Neurone, die auf die Blickrichtung reagieren. Womöglich sehen sich die Tiere im Schlaf gewissermaßen um, wie es auch Menschen in der REM-Phase tun.

Nachzuweisen, ob andere Tiere als Säugetiere träumen – etwa Insekten, Reptilien oder Vögel –, erweist sich als noch komplizierter. Deren Gehirne unterscheiden sich stark von dem des Menschen, und zudem ist es oft schwierig, sie im Schlaf zu untersuchen. Im Juni 2023 gelang es einem Team um Gianina Ungurean vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz im oberbayerischen Seewiesen, die Hirnaktivität wacher und ruhender Tauben aufzuzeichnen. Sie hatten die Vögel zuvor langsam an die Attrappe eines Bildgebungsscanners gewöhnt, bevor sie diesen gegen einen echten funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) austauschten. So zeichneten sie die ersten Gehirnscans von schlafenden Vögeln auf. Wie bei Säugetieren ließen sich darin Phasen von REM- und Non-REM-Schlaf festmachen, wie die Forschenden in »Nature« berichteten.

Während des REM-Schlafs der Tauben waren insbesondere Hirnregionen aktiv, die daran mitwirken, visuelle Informationen zu verarbeiten. Die betreffenden Areale helfen den Tieren dabei, Bilder wahrzunehmen, die durch das Sichtfeld gleiten, während sie sich bewegen – ein Phänomen, das man als optischen Fluss bezeichnet. Zusammengenommen spiegeln diese Muster vermutlich das wider, was beim Fliegen im Vogelgehirn passiert, meint Ungurean. Womöglich hätten die Tauben also davon geträumt, formuliert sie vorsichtig.

Ungurean beobachtete auch, dass während des Non-REM-Schlafs Hirnflüssigkeit (Liquor) durch das Organ gespült wird. Das dient dazu, Giftstoffe auszuschwemmen. In der REM-Phase findet der Prozess in viel geringerem Maße statt. Daraus folgert sie, dass er eine wichtige Funktion haben muss. »Wir brauchen diesen REM-Zustand«, erklärt sie – denn sonst hätten wir den reinigenden Non-REM-Schlaf nicht gegen ihn eingetauscht. Allerdings seien Träume und Schlafphasen im Tierreich wahrscheinlich nicht universell, betont der Neurowissenschaftler Paul Manger von der University of the Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika. Schwämme haben zum Beispiel kein Gehirn und nicht einmal Neurone. Damit fehlt ihnen die Maschinerie zum Träumen.

Darüber hinaus gibt es Tiere mit ungewöhnlichen Schlafmustern. Dazu zählen Wale und Delfine, die nur mit der einen Hälfte ihres Gehirns schlummern, während die andere wach bleibt. Die Meeressäuger zeigen auch keine Anzeichen von REM-Schlaf. Manche Fachleute vermuten deshalb, dass die Tiere lediglich weniger lebhafte Non-REM-Träume erleben. Manger erscheint dies kontraintuitiv, da Wale und Delfine wahrscheinlich über ein komplexes Innenleben verfügen. Doch während des REM-Schlafs, so argumentiert er, sei die Regulierung der Körpertemperatur beeinträchtigt. Die Tiere wären in der Zeit also anfälliger für extreme Temperaturen. Das könnte für Meeressäuger, die sich durch kaltes Wasser bewegen, gefährlich sein. »Für mich sieht es so aus, als wäre es eine Anpassungsmaßnahme, um Unterkühlung zu verhindern«, erläutert er.

Gedächtnisfördernder REM-Schlaf?

Dennoch scheinen REM-Phasen gewisse Vorzüge zu haben. So mehren sich sowohl bei Untersuchungen mit Vögeln als auch mit Säugetieren etwa die Hinweise darauf, dass sie positiv zur Gedächtnisbildung und zum Lernen beitragen. »Während des Schlafs werden Erlebnisse wiederholt«, erklärt Ungurean. Das helfe dabei, Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis zu integrieren. Sobald Tiere eine einigermaßen komplexe Lebensweise entwickelt hätten, müssten sie träumen, um »zu lernen und zu kontextualisieren«, meint David Scheel von der Alaska Pacific University in Anchorage, Kanada. Das geschieht, indem Erfahrungen, die ein Tier in Wachphasen gesammelt hat, sich in unterschiedlichen Variationen im Schlaf wiederholen.

Vögel und Säugetiere sind allerdings weitaus enger mit dem Menschen verwandt als Spinnen. Unser letzter gemeinsamer Vorfahre mit Gliederfüßern lebte vor über 500 Millionen Jahren. »Bei wirbellosen Tieren wurden Schlaf und Träume bisher kaum beachtet«, erzählt Rößler. Das liegt zum einen an Vorurteilen ihnen gegenüber – dass sie primitiv seien und kein komplexes Innenleben hätten – und zum anderen an praktischen Herausforderungen, die ihre Erforschung mit sich bringt. In den letzten Jahren habe das Feld jedoch begonnen, »sich langsam zu öffnen«, sagt sie.

So war es Rößler etwa nicht möglich, Spinnen in einem Hirnscanner ruhig zu halten. Sie musste also neue Methoden finden, um deren Schlafaktivität zu messen. Springspinnen verfügen über Netzhautröhren in ihren Augen, die sie anwinkeln können, um ihr Sichtfeld zu verschieben. Mit Hilfe einer Tracking-Software, die die Bewegung dieser Röhren genau verfolgt, beobachtete die Forscherin ein Verhalten, das dem REM-Schlaf ähnelt.

Ruhestellung | Bei einer Reihe von Springspinnen beobachtete Daniela Rößler, wie die Tiere sich auf den Schlaf vorbereiteten: Sie hängten sich kopfüber an einen Faden und rollten ihre Beine ein.

Rößler erzählt, dass die Tiere ihre Beine nach innen rollten, während sie schliefen. Eine solche Körperhaltung ist sonst nur bei toten Spinnen zu sehen, wo sie durch nachlassenden Innendruck zu Stande kommt. »Wir haben den Eindruck, dass das der Muskelatonie und -lähmung ähnelt, die wir bei schlafenden Säugetieren und Vögeln beobachten«, sagt sie. Derzeit untersucht die Wissenschaftlerin den Schlaf von 20 verschiedenen Spinnenarten und hat bisher bei jeder einzelnen »exakt die gleichen Muster« gefunden. Gleichwohl bleibt Rößler verhalten, wenn es darum geht, die Bedeutung ihrer Ergebnisse zu interpretieren: »Wir konnten noch nicht einmal wirklich bewiesen, dass die Spinnen überhaupt schlafen«, betont sie. Schlaf ist nämlich üblicherweise als Auftreten bestimmter Charakteristika von Säugetieren definiert.

Zwar deuten die gefundenen Muster auf Träume hin, doch noch ist unklar, wie solche äußerlichen Anzeichen mit dem inneren Erleben zusammenhängen. Wir können unmöglich abschätzen, wie es ist, eine Spinne oder eine Taube zu sein, geschweige denn, uns ihre Traumwelten vorstellen. Menschen neigen schnell dazu, zuckende Gliedmaßen oder ein gedämpftes Bellen von schlafenden Hunden als Ausdruck des Träumens zu interpretieren. Aber die Wahrheit ist, dass man schlichtweg nicht weiß, ob der Vierbeiner sich dabei tatsächlich eine Jagd vorstellt.

Die Fantasiewelt eines Kraken

Ein wirbelloser Träumer bietet hier allerdings einen spannenden Einblick. Schon vor mehr als einem Jahrzehnt fiel bei Kopffüßern wie Kraken und Tintenfischen ein eigentümliches Schlafverhalten auf. Die Färbung der Tiere kann sich im Schlaf verändern und sie zucken gelegentlich mit einem oder mehreren ihrer Arme. Daraus schloss man, dass sie offenbar sowohl eine REM- als auch eine Non-REM-Schlafphase durchlaufen. Detaillierte Verhaltensbeobachtungen – zusammen mit bildgebenden Untersuchungen ihres Neuronennetzes – erbrachten dann in den letzten Jahren Hinweise auf ein facettenreiches Traumerleben der Tiere.

Im Jahr 2019 hielt David Scheel während der Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm einen Oktopus namens Heidi in einem Becken in seinem Wohnzimmer. Einmal, mitten in der Nacht, schien Heidi zu träumen: Gliedmaßen und Kopf bewegten sich, und ihre Haut wechselte schnell die Farbe. Es wirkte, als ob sie eine Krabbe verfolgte. Im Frühjahr 2023 tauchte ein Video eines schlafenden Kraken auf, der augenscheinlich einen Albtraum hatte: Der Oktopus, Costello, schlug wild um sich, er blies seine Mantelhöhle auf – offenbar, um größer zu wirken – und er spritzte Tinte, als ob ihn ein Raubtier angreifen würde. Die Fallbeschreibung sei faszinierend, sagt Scheel, aber sie basiert auf Beobachtungen an einem einzigen Tier. Er argumentiert, daneben brauche es auch bildgebende Verfahren des Gehirns . Nur sie können zeigen, ob die Kraken in ihren Träumen Abfolgen von Aktivitäten aus dem Wachzustand erleben.

Gemeine Krake | Bei den Tieren hat man bereits faszinierendes Traumverhalten nachgewiesen.
Gemeine Krake im Schlaf | Sie wechseln etwa im Schlaf ihre Farbe – so wie sie es auch im Wachzustand tun, um sich vor Fressfeinden zu tarnen.

Tatsächlich wies man bei Kraken bereits solche Muster nach. Im Juni 2023 berichteten Fachleute um Leenoy Meshulam von der University of Washington in Seattle von neun Kraken, denen sie Elektroden implantiert hatten, um ihre Gehirne im Wachzustand und im Schlaf zu beobachten. Aktivitätsmuster, die tagsüber beim Farbwechsel auftraten – den die Tiere nutzen, um sich zu tarnen und so vor Gefahren zu verstecken – wiederholten sich im Schlaf.

Für Scheel sind die Beobachtungen zumindest mit der Vorstellung vereinbar, dass Kraken Albträume haben könnten. Wenn Menschen im Schlaf emotionale Erlebnisse verarbeiten, dann tun das vielleicht auch Tintenfische. Ein Oktopus, der dabei Anzeichen von Angst zeige, träume wahrscheinlich von einem ihm bekannten Raubtier, denkt Scheel. Aber um Costellos angeblichen Albtraum nachzuweisen, bräuchte man mehr Daten darüber, wie Kraken eigentlich auf echte traumatische Erlebnisse reagieren, etwa die Verfolgung durch einen Fressfeind.

Träumen mit Hundenase oder Fledermaussonar

Scheel sieht ein Problem darin, dass wir nie in der Lage sein werden, die Träume anderer Spezies wie unsere eigenen zu erleben. »Aber wir können versuchen, uns vorzustellen, wie diese Traumwelten aussehen, indem wir den Tieren in ihrer Erlebniswelt begegnen«, meint Rößler. Für viele Menschen ist zum Beispiel das Sehen der dominante Sinn, und so sind auch unsere nächtlichen Fantasien stark visuell geprägt. Hunde orientieren sich vor allem über den Geruchssinn und Fledermäuse über Echolot. Spinnen verlassen sich hingegen viel mehr auf Vibrationen. Wenn Springspinnen also von hilflosen Insekten in ihrem Netz träumen, fantasieren sie wahrscheinlich eher von Klopf- und Schüttelempfindungen.

Angesichts umfangreicher möglicher Nutzen sei es wahrscheinlich, dass Träumen im Lauf der Evolution mehreren Zwecken diente, glaubt Scheel. Sie zu erforschen, könnte Hinweise darauf geben, wozu unsere eigenen nächtlichen Fantasiereisen dienen. Künftige Studien könnten zudem aufdecken, welche Tierarten träumen und wie sich Erlebnisse im Wachbewusstsein auf den Prozess auswirken. Eine weitere offene Frage ist, ob sich die Fähigkeit nur einmal – bei den frühesten Tieren – oder mehrmals unabhängig voneinander entwickelt hat. Das wiederum könnte neue Einblicke in den Selektionsdruck liefern, der ihre Entstehung veranlasst hat. Und letztlich gäbe dies eventuell sogar Aufschluss darüber, weshalb Träumer im Schlaf reale Erfahrungen reproduzieren.

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  • Quellen

Manger, P.R. und Siegel, J.M.: Do all mammals dream? JCN 528, 2020

Pophale, A. et al.: Wake-like skin patterning and neural activity during octopus sleep. Nature 619, 2023

Rößler, D.C. et al.: Regularly occurring bouts of retinal movements suggest an REM sleep–like state in jumping spiders. PNAS 119, 2022

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