Direkt zum Inhalt

Ohnmächtige Kinderschützer

Ein dreijähriger Junge, dessen Körper von den Bissspuren eines Erwachsenen übersät ist; ein Säugling, dem man die Kopfschwarte vom Schädel gerissen hat; ein Kleinkind, das mit kochendem Wasser verbrüht wurde. Schockierende Gewalttaten wie diese sind Alltag für den Leiter der Rechtsmedizin der Berliner Charité, Michael Tsokos, und seine Mitarbeiterin Saskia Guddat. Ärzte oder Polizisten ziehen die beiden Experten hinzu, wenn der Verdacht auf körperliche Kindesmisshandlung besteht. Tsokos und Guddat dokumentieren die Verletzungen der jungen Patienten und rekonstruieren den Tathergang. Ihre Erfahrungen haben sie im vorliegenden Buch zusammengefasst – mit dem Ziel, auf die Missstände im deutschen Kinderschutzsystem aufmerksam zu machen.

Anhand drastischer Beispiele zeigen die Autoren, dass die Realität oft abscheulicher ist als der grausamste Psychothriller und die Beteiligten vielfach hilflos zurücklässt. Denn nur, wenn es gut läuft, können die Rechtsmediziner den Täter oder die Täterin ausfindig machen und dazu beitragen, das Kind vor ihm oder ihr in Sicherheit zu bringen. Viel zu oft offenbart sich das Grauen hinter deutschen Kinderzimmertüren erst, wenn es zu spät ist. Da wird ein Baby so stark geschüttelt, dass es lebenslange Behinderungen davonträgt; da verhungert ein Kleinkind oder stirbt ein Säugling nach einem Faustschlag in den Bauch an inneren Verletzungen. In Deutschland werden 200.000 Kinder pro Jahr zum Opfer von Gewalt seitens Erwachsener. 160 von ihnen kostet das laut offizieller Polizeistatistik das Leben, doch die Dunkelziffer liegt wohl weit höher. In viel zu vielen Fällen sind die betroffenen Familien dem Jugendamt schon lange vorher als problematisch bekannt gewesen.

Von Grausamkeit geprägt

Bei den Tätern handelt es sich den Autoren zufolge fast immer um den Vater, die Mutter oder den neuen Lebenspartner eines Elternteils. Häufig haben diese in ihrer Kindheit selbst schwere Gewalt erleiden müssen. Jetzt geben sie ihre unseligen Erfahrungen an den Nachwuchs weiter – ein Teufelskreis, der tödlich enden kann.

Auch wenn die körperlichen Verletzungen heilen mögen: Die seelische Misshandlung führt bei den betroffenen Kindern immer zu Entwicklungsverzögerungen oder -rückschritten. Viele von ihnen zeigen Fremden gegenüber distanzlose Zuneigung, ein typisches Zeichen für zerstörtes Urvertrauen. Daraus folgen oft massive kognitive und soziale Schwierigkeiten, die bis zum Lebensende bleiben.

Etliche dieser Katastrophen ließen sich verhindern, meinen die Autoren. Sie prangern die Unfähigkeit und mangelnde Erfahrung von Jugendamtsmitarbeitern und Familienhelfern an. Diese seien häufig zu jung, abgestumpft, schlecht bezahlt und ließen sich täuschen, wenn überforderte Eltern ihnen die heile Familie vorspielten. Den Ärzten wiederum werfen Tsokos und Guddat vor, sich allzu oft der Wahrheit zu verschließen. Die offensichtlichen Folgen einer Misshandlung würden aus Angst vor der grausamen Realität schon mal zu Unfallwunden umgedeutet. Auch Richter und Schöffen weigerten sich, das Unfassbare zu sehen. Niemand wolle dafür verantwortlich sein, ein Kind aus irrtümlichen Beschuldigungen heraus von seinen Eltern zu trennen.

Plädoyer für frühes Eingreifen

Tsokos und Guddat fordern ein strengeres Kinderschutzsystem. Sie plädieren für null Toleranz gegenüber Kindesmisshandlung. Opfer müssten viel früher die Chance bekommen, ihr schlimmes Umfeld hinter sich zu lassen und in eine geeignete Pflegefamilie zu wechseln, damit sie keine langanhaltenden psychischen Störungen ausprägten. Familienhelfer und Kinderärzte müssten rechtsmedizinisch besser geschult werden, um Gewalttaten schneller zu erkennen. Eine unabhängige Instanz solle den staatlichen Kinder- und Jugendschützern auf die Finger schauen, damit bei folgenschweren Fehlern nicht die Verantwortung hin und her geschoben werde.

Man merkt den Rechtsmedizinern an, dass sie während ihrer Arbeit oft an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit stoßen – wegen der Grausamkeiten, mit denen sie konfrontiert werden, aber auch wegen ihrer Machtlosigkeit, etwa wenn ein offenkundig misshandeltes Kind in seiner Familie bleiben muss und dort vielleicht sogar zu Tode kommt. Dass etwas falsch läuft im deutschen Kinderschutzsystem, dürfte jedem Leser spätestens ab der Mitte dieses aufwühlenden Buchs klar sein.

Kennen Sie schon …

Spektrum Geschichte – Zwangsgermanisierung

Die Nationalsozialisten verschleppten zehntausende Kinder, um sie als Deutsche aufwachsen zu lassen. Was aus ihnen werden sollte, verraten die Erziehungsideale der Nazis: Ihrer Bedürfnisse entzogen sollten die Kinder willfährig und gehorsam werden. Kinderraub und Erziehung haben bis heute Folgen.

Spektrum - Die Woche – Übersehene Mädchen

Die Diagnose ADHS wird deutlich öfter bei Jungen als bei Mädchen gestellt, doch spiegelt das tatsächlich die Realität wider? Was steckt hinter dem Geschlechterbias? Außerdem in der aktuellen »Woche«: ein Experteninterview zum Cyberkrieg, der hinter den blutigen Kulissen in Nahost stattfindet.

Gehirn&Geist – Gedankenlesen

»Gedankenlesen« erklärt, wie realistische technische Anwendungen aussehen könnten und welche Grenzen dem maschinellen »Brain Reading« gesetzt sind. Außerdem im Heft: Die unterschätzte Rolle der Väter für die Sprachentwicklung des Kindes; Medizingeschichte: Psychotherapie in der DDR; Depression: Heilen mit Strom; Schmerz und Chronischer Schmerz: Leben mit ständiger Qual.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.