Direkt zum Inhalt

Versiert, aber unausgewogen

Unser Denken führe uns leicht in die Irre, warnt Manfred Spitzer in seinem neuen Buch. Es enthält, wie schon die vorangegangenen 15 Bände aus seiner Feder, eine Sammlung von Beiträgen aus "Nervenheilkunde". Diese Zeitschrift gibt der Autor, Professor für Psychiatrie und Psychologie am Universitätsklinikum Ulm, selbst heraus.

Im vorliegenden Werk befasst sich Spitzer jedoch nicht nur mit Denkfallen, wie der Buchtitel vermuten lässt. Die Themen überspannen ein breites Spektrum von Psychologie über Medizin bis Politik, von Beziehungsstress bis zu den diplomatischen Beziehungen mit dem Iran, von Geschlechterunterschieden bis zu den kognitiven Auswirkungen einer Chemotherapie. Gut verständlich legt der Autor etwa dar, wieso die Art des Ackerbaus unseren Denkstil beeinflusst, weshalb das gemeinsame Abendessen am Familientisch psychischen Problemen in der Kindheit entgegenwirkt und warum ein Spaziergang die Kreativität fördert.

Fachlich sattelfest

Spitzer bewegt sich routiniert zwischen den verschiedenen Disziplinen der Psychologie und Psychiatrie hin und her und hält zu jedem Thema die passende Studie bereit. Die Kapitel seines Buchs schließt er jeweils mit einem Kommentar ab, der offenbar dazu dienen soll, wissenschaftliche Erkenntnisse in den Alltag der Leser zu übertragen. Beispielsweise rät der Autor dazu, Beziehungsstress möglichst zu vermeiden, da dieser uns umbringen könne. An anderer Stelle fordert er einen Geruchstest, um festzustellen, wie sich unsere Nervenzellen von Schäden erholen.

Das Buch vermittelt psychologischen Laien einen Einblick darin, wie unser Gehirn und das Denken funktionieren, und das ist wohl auch Spitzers Ziel. So schreibt er, die Leser sollten sich bei der Lektüre an den neuen Erkenntnissen aus Psychologie und kognitiven Neurowissenschaften erfreuen, die er vorstellt. Sicher scheint: Wer von seinen vorangegangenen Werken begeistert war, wird es wohl auch von diesem sein.

Studierten Psychologen bietet das Buch jedoch wenig Neues. Einige der besprochenen Studien sind altbekannt, etwa Untersuchungen zum kulturpsychologischen Unterschied zwischen Kollektivismus und Individualismus oder zum positiven Effekt der Zweisprachigkeit auf die kognitive Entwicklung. Und etliche Themen, auf die Spitzer eingeht, sind derart umfangreich, dass andere Autoren sie längst in eigenständigen Publikationen und viel gründlicher abgearbeitet haben, beispielsweise der Zusammenhang zwischen Telomerlänge und (psychischer) Gesundheit bei Kindern aus benachteiligten Familien.

Fehlende Balance

Da Spitzer viele Sachverhalte und Studien verkürzt darstellt, entsteht wiederholt der Eindruck, er interpretiere voreilig und betrachte Forschungsergebnisse undifferenziert. Zudem geht er nicht hinreichend auf Methodik und Belastbarkeit der zitierten Untersuchungen ein. Mitunter fragt man sich sogar, ob der Autor den Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation beachtet hat. Und ob sich das jeweilige Untersuchungsergebnis nicht auch noch anders erklären lässt als im Buch dargestellt.

Zudem lässt der Autor seine eigene Meinung allzu offensichtlich in das Werk einfließen, womit er weiteres Vertrauen bei den Lesern verspielt. Dass der Psychiater wenig von den neuen Medien hält, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. So überrascht es nicht, dass Smartphones, Internet und elektronische Krankenakten auch im vorliegenden Band nicht gut wegkommen. Weniger von solchen Wiederholungen und mehr fachlicher Tiefgang hätten dem Werk gut getan.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Völlig verwirrt?

Sind Sie manchmal völlig verwirrt und haben keinen Durchblick? Gut so, Konfusion motiviert, macht produktiv und beschleunigt den Lernprozess. Außerdem: Manche Menschen werden von einem lästigen Pfeifen geplagt. Die Suche nach den Hirnmechanismen, denen Tinnitus entspringt, deckt zugleich mögliche Wege zu seiner Linderung auf. Lachgas hat den Ruf einer relativ ungefährlichen Substanz. Warum entwickeln trotzdem immer mehr Konsumenten gesundheitliche Schäden bei Einnahme der Trenddroge? Lange hielt man den Thalamus für eine simple Zwischenstation auf dem Verarbeitungsweg der Sinnesinformationen. Doch vermutlich wären viele Denkprozesse ohne ihn gar nicht möglich.

Gehirn&Geist – Zucker als Droge - Wie Süßes unser Gehirn beeinflusst

Auch Erwachsene können Süßem nur schwer widerstehen. Warum wirkt Zucker wie eine Droge und wie beeinflusst Süßes unser Gehirn? Lässt sich dagegen etwas machen? Außerdem: Warum schwindeln manche Menschen ständig, wie kann man solchen pathologischen Lügnern helfen? Manchmal ist es nicht so leicht zu entscheiden, ob wir etwas wirklich sehen oder es uns nur vorstellen. Wie unterscheidet unser Gehirn zwischen Realität und Einbildung? Manche Menschen können längerfristige kognitive Probleme nach einer Krebstherapie haben. Was weiß man über das so genannte Chemobrain, was kann Linderung verschaffen? Dating-Apps ermöglichen es, Beziehungen mit einem Klick zu beenden und plötzlich unsichtbar zu sein. Dieses Ghosting kann für die Opfer sehr belastend sein.

Spektrum Kompakt – Kreativität - Bunter Ideenreichtum

Kreativität ist eine Kostbarkeit, der scheinbar hinterhergejagt werden muss - allerdings kann sie auch gerufen werden. Kreativität ist nämlich nicht nur wenigen Personen vorbehalten. Die Pfade bunter Ideen lassen sich kartieren und geben Aufschluss darüber, wann ein Kopf besonders originell denkt.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.