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Ein beeindruckendes Organ

Halten wir eine Tasse heißen Tee in der Hand, kann es passieren, dass wir die Beziehung zu unserer Mutter positiver einschätzen als mit einem Kaltgetränk. Dieser verblüffende Effekt entsteht, weil sich die Mechanismen des Gehirns, mit denen es zwischenmenschliche und körperliche Wärme beurteilt, überschneiden und gegenseitig beeinflussen. Ganz ähnlich fällen Menschen strengere moralische Urteile, wenn es unangenehm riecht, und sie verhandeln kompromissloser, während sie auf einem harten Stuhl sitzen. Oft wissen wir nicht, warum wir welche Entscheidung treffen. Fest steht aber, dass unser Gehirn ständig Informationen aus der Umgebung erhält, die auf unser Verhalten einwirken – auch wenn wir das häufig gar nicht merken.

David Eagleman, Neurowissenschaftler und Schüler des Nobelpreisträgers Francis Crick, beschreibt in seinem Buch anhand vieler Beispiele, welche Rolle unbewusste Prozesse in unserem Leben spielen. Er erklärt etwa, wie wichtig ein liebevolles und fürsorgliches Umfeld für die Entwicklung des kindlichen Gehirns ist, oder wie Erfahrungen ihre "Fingerabdrücke" im Gehirn hinterlassen und so seine physische Struktur prägen. Kurz: wie die Umwelt uns zu dem macht, der wir sind.

In den anderen hinein versetzen

Sachlich, aber anschaulich beleuchtet der Bestsellerautor verschiedene Vorgänge im Gehirn, die unser Handeln steuern. Mitgefühl entsteht zum Beispiel, wenn man das Leid eines anderen sieht. Dabei werden ähnliche Hirnregionen aktiv, wie wenn wir selbst Schmerzen spüren. Das Gehirn simuliert also überzeugend, wie es wäre, wenn wir uns in der Situation des anderen befänden. Das ist auch der Grund, weshalb uns Filme und Romane faszinieren. Wir identifizieren uns mit der Not oder der Freude der Figuren.

Außerdem betont Eagleman die enorme Leistungsfähigkeit des Gehirns. Selbst ein einfacher Bewegungsablauf – wenn wir beispielsweise eine Tasse mit der Hand zum Mund führen – entspricht der Rechenleistung mehrerer Dutzend der schnellsten Supercomputer der Welt. Während Computer aber wahre Stromfresser sind, arbeitet unser Denkorgan erstaunlich sparsam: Es braucht gerade einmal so viel Energie wie eine 60-Watt-Lampe. Bis heute gibt es kein künstliches System, das annähernd so leistungsstark ist wie das menschliche Gehirn.

Den Menschen auf sein Denkorgan reduziert

Schon der Titel des Buchs und Sätze wie "Heute leben mehr als sieben Milliarden menschliche Gehirne auf unserem Planeten" lassen vermuten, dass Eagleman das menschliche Ich und das Leben an sich auf synaptische Prozesse reduziert. Natürlich wissen Wissenschaftler inzwischen eine Menge darüber, wie Nervenzellen, Netzwerke und Hirnregionen funktionieren. Allerdings ist bisher kaum bekannt, auf welche Weise die Signale, die in unserem Gehirn herumschwirren, eine Bedeutung für uns bekommen. Daher kann man bezweifeln, ob allein die Neurowissenschaft den großen Fragen nach dem menschlichen Ich auf den Grund gehen kann und sollte. Denn schließlich betreffen sie auch andere Disziplinen wie die Philosophie.

Etwas philosophisch wird der Autor dann tatsächlich gegen Ende des Buchs, wenn es darum geht, wo im Gehirn das Denken, Fühlen und die Wahrnehmung sitzen. Hätte eine funktionierende Simulation des menschlichen Gehirns ein Bewusstsein? Wäre ein solches künstliches Konstrukt ein fühlendes Wesen? Könnte es denken? Und vor allem: Könnte es über sich selbst nachdenken? Zwar beobachten Wissenschaftler im Gehirn Neurone, Synapsen, chemische Botenstoffe sowie elektrische Ströme, und sie sehen viele Milliarden kommunizierender Zellen. Aber wo sitzt das Ich? Wo die Gedanken, die Emotionen, das Glücksgefühl? Und wo die Farbe Blau?

Schade, dass der Neurowissenschaftler diese spannenden Fragen erst am Ende aufwirft. Noch bedauerlicher ist, dass er sie mit der Vermutung abtut, Bewusstsein entstehe dann, wenn genügend Nervenzellen in der richtigen Weise kooperieren. Das macht stutzig, hat er doch nur wenige Seiten zuvor noch erklärt, das Bewusstsein sei eines der größten Rätsel der modernen Hirnforschung und es seien neue Theorien und Erkenntnisse notwendig, um es wirklich verstehen zu können.

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