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Die Reise nach Fantasia

Geschichtstourismus liegt im Trend. Er hat mit der belegbaren historischen Realität allerdings ziemlich wenig zu tun.

Ein abgelegenes Tal in den Alpen, dessen Bewohner heute noch so leben wie »früher«. Ein luxuriöses Ayurveda-Hotel auf Sri Lanka, das man nur buchen kann, wenn man jemanden kennt, der schon einmal da war. Der Mittelmeerstrand, an dem man vor Jahren den ersten, perfekten Urlaub mit Freunden verbrachte, und zu dem man nun mit der Familie zurückzukehren versucht. Eines haben all diese Orte gemeinsam: Sie verheißen etwas, das verloren ist.

Der Historiker Valentin Groebner beschreibt in diesem Buch den nostalgiegetriebenen Tourismus und ganz besonders den Geschichtstourismus als Suche nach dem angeblich Echten und Authentischen. Dabei geht er zurück bis in die Renaissance, in der italienische Architekten künstliche Pilgerorte in der Toskana schufen, die eine Reise ins Heilige Land überflüssig machen sollten, da sie absolut »authentische« und »originalgetreue« Nachbildungen des Heiligen Grabs und anderer wichtiger Wallfahrtsziele seien. Keiner dieser Nachbauten sah oder sieht seinem Vorbild auch nur im Geringsten ähnlich, dennoch erlangten sie schon bald Kultstatus und sind bei geschichts- und kunstaffinen Touristen aus aller Welt bis heute sehr beliebt.

Fragwürdige Identität

Groebner ist schon mit zahlreichen Publikationen in Erscheinung getreten, etwa »Das Mittelalter hört nicht auf« (2008). Aus nostalgischen Gründen zu verreisen, so seine zentrale These in diesem Werk, sei eine Suche nach dem Unerreichbaren, nach einer »besseren Zeit«, die man im heutigen Alltag nicht mehr zu finden meint – so es sie überhaupt je gegeben hat. Dies drücke sich etwa in der Wahl von Reisezielen aus, die an eine vermeintlich gute Vergangenheit erinnern (etwa die koloniale Pracht eines Hotelbaus) oder nahe an »unberührter« Natur liegen.

Auch daheim würde eine »Erinnerungskultur« inszeniert, die mit realen historischen Ereignissen wenig bis nichts zu tun habe, etwa in Form groß inszenierter Jubiläumsfeiern für gewonnene Schlachten oder historische Stadtgründungen. Diese gälten häufig als zentraler Teil der lokalen oder nationalen Identität, auch wenn sie historisch kaum oder gar nicht belegt seien. Groebner zerlegt diesen Begriff der »Identität« und entblößt ihn als inhaltsleere Phrase, die so oft wiederholt wurde, dass sie kaum jemand mehr in Frage stellt. An dieser kollektiven Fiktion lasse sich allerdings seitens der Tourismusindustrie gutes Geld verdienen. Wenig überraschend, dass der Autor den oft geäußerten Kundenwunsch nach »Authentizität« in Frage stellt, den Reisebüros erfüllen zu können behaupten: Am Urlaubsort solle zwar alles »original« und »ursprünglich« sein, aber bitte mit genügend Parkmöglichkeiten und schnellem WiFi. Letztlich, schreibt Groebner, gehe es nicht um das Erleben der Vergangenheit, die sich ohnehin nur bedingt rekonstruieren lasse, sondern um das Schwelgen in einer idealisierten Vorstellung derselben.

Mit scharfzüngigem Sprachwitz, persönlichen Anekdoten und viel fundiertem historischen Wissen gibt Groebner etliche Beispiele für die seiner Meinung nach zentrale Verlockung des Tourismus: die Sehnsucht nach einer eingebildeten, unerreichbaren Perfektion, die oft irgendwo in der Vergangenheit angesiedelt wird. Es gehe im Geschichtstourismus mehr um eigene Wahrnehmung als um tatsächliche Geschichte. Dieses Fazit ist mit einer guten Portion Selbstironie versehen, denn auch der Autor ist bisweilen Tourist und auf der Suche nach verlorenen Paradiesen. Gerade deswegen liest sich das Werk sehr gut. Ganz gleich, ob man Groebners Thesen zustimmt oder nicht, »Retroland« kann allen, die gern an geschichtsträchtige Orte reisen und das Authentische zu entdecken versuchen, eine vergnügliche Lektüre bescheren.

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