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Das "Selbst" im Hirn: Wo bin ich?

Seit Jahrzehnten arbeiten Wissenschaftler daran, das Ich-Bewusstsein im Gehirn zu verorten. Dabei kommen sie einer Vorstellung davon, was das "Selbst" eigentlich ausmacht, immer näher.
Wo ich bin

"Ich lese einen Artikel", "Ich muss gleich in die Sitzung", "Ich habe eigentlich keine Lust". Ein Gefühl von "Ich" begleitet uns durch unser Leben. Wo ist dieses "Ich" im Gehirn verankert? Zahlreiche neurowissenschaftliche Studien haben sich auf die Suche nach einer Repräsentation des "Ich" im Gehirn gemacht – nach einer Struktur, von der man sagen kann: Hier liegt das "Selbst". Noch hat man keine solche Struktur gefunden.

Die Forschungsrichtung bekam eine neue Wende, seitdem Wissenschaftler versuchen, genauer zu definieren, wonach sie eigentlich suchen. Denn Ich-bezogene Prozesse sind vielfältig. Ob wir uns im Spiegel betrachten, über uns nachdenken, Erinnerungen an uns selbst haben oder unseren Körper spüren – all diese Prozesse haben etwas mit "Ich" zu tun, sind jedoch von Grund auf verschieden. Haben selbstbezogene Prozesse vielleicht dennoch eine Art Grundbaustein, nach dem man zuerst suchen kann?

Viele Forscher sind sich darin einig, dass die Wurzel sämtlicher Ich-bezogener Prozesse in der körperlichen Interaktion mit der Umwelt liegt. "Ich glaube, dass die Fähigkeit, die eigenen Bewegungen sich selbst zuzuschreiben, sehr grundlegend ist. Unterscheiden zu können zwischen 'das war ich' und 'das war ich nicht' bildet die Grundlage auch für die Entwicklung von höherstufigem Selbstbewusstsein", sagt Gottfried Vosgerau, Professor am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. "Sense of Agency" nennen Wissenschaftler dieses Gefühl, der Urheber der eigenen Bewegungen zu sein. Und dieser Sense of Agency ist nun in den Fokus der "Selbst"-Forschung gerückt.

Keine Aufgabe für nur eine Hirnregion

Eine Reihe neuerer Studien konzentriert sich darauf, besser zu verstehen, wie der Sense of Agency zu Stande kommt und wo er im Gehirn verankert ist. Probanden bekommen beispielsweise ein Video ihrer eigenen Handbewegung vorgespielt – entweder "live" und unverändert, dann hatten die Probanden das Gefühl, die beobachtete Hand gehöre ihnen selbst, oder aber zeitversetzt, rotiert beziehungsweise in falscher Reihenfolge, dann blieb dieses Gefühl aus. Währenddessen untersuchten die Forscher die Gehirnaktivität der Teilnehmer im Scanner, in der Hoffnung, zwischen beiden Fällen unterscheiden zu können. Eine einzelne Gehirnregion, die für dieses Gefühl zuständig ist, haben sie dabei allerdings nicht gefunden. "Ich nehme daher an, dass es ein Agency-Netzwerk gibt, an dem verschiedene Hirnregionen beteiligt sind", sagt Nicole David, Psychologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. "Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen der Neurowissenschaften zeigen, dass auch für ganz basale Funktionen komplette Netzwerke aktiviert werden. Ich denke also, dass man gar nicht nach einer einzelnen Region suchen sollte."

Den entscheidenden Anstoß, das Selbst in den für Bewegungssteuerung zuständigen Arealen zu suchen, gab ein Blick über den Tellerrand hinaus – von der Neurowissenschaft in die Philosophie. Ludwig Wittgenstein unterschied zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen des Personalpronomens der ersten Person. Mal sprechen wir von "Ich" als dem Objekt der Betrachtung – das auf dem Foto bin ich, ich wohne in Hamburg, ich bin sportlich. Aber es gibt auch ein anderes "Ich" – das "Ich" als Subjekt, das die eigene Perspektive auf die Welt wiedergibt. Wenn wir uns im Spiegel ansehen, ist das Spiegelbild das Objekt, das vom subjektiven "Ich" betrachtet wird.

Descartes, Kant, James, Husserl, Sartre und Wittgenstein verwenden unterschiedliche Definitionen von "Ich" oder "Selbst" – und dennoch haben sie eines gemeinsam: Sie reduzieren das "Ich" nicht auf das Objekt, sondern betonen das subjektive "Ich". Der amerikanische Philosoph Shaun Gallagher von der University of Memphis nennt es das "minimal self", denn es beschränkt sich auf den Augenblick, auf das unmittelbare Gefühl von Selbst, ohne alle zeitlichen Aspekte wie Erinnerungen, Pläne oder Reflexionen. Das minimale Selbst hängt eng mit körperlichen Aspekten zusammen. Wir empfinden unseren Körper als zu uns gehörig, und wir haben das Gefühl, dass wir der Verursacher unserer eigenen Bewegungen sind – einen Sense of Agency eben.

In den Anfängen der neurowissenschaftlichen Erforschung des "Ich" konzentrierten sich Wissenschaftler hingegen fast ausschließlich auf das "Ich" als Objekt der Betrachtung. Sie untersuchten die Gehirnaktivität von Probanden, wenn diese sich auf Fotos erkannten, ihre eigene Stimme hörten, den eigenen Namen lasen oder über ihre eigene Persönlichkeit nachdachten. Nun aber findet ein Umdenken statt, und das subjektive Empfinden des "Ich" rückt in den Fokus des Interesses.

Aktive (Selbst-)Wahrnehmung

Sense of Agency hat viel damit zu tun, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Wahrnehmung wiederum ist eine aktive Angelegenheit – wir bewegen uns in der Welt, um sie zu erfahren. Bewegen wir beispielsweise die Augen nach links, zieht die Welt auf unserer Netzhaut nach rechts vorbei. Wir wissen aber, dass nicht die Welt sich gedreht hat, sondern dass die eigene Bewegung diese visuelle Veränderung verursacht hat. "Die Unterscheidung zwischen meiner eigenen Bewegung und der Bewegung der Außenwelt ist eine ganz basale Fähigkeit, die ich brauche, um die Welt überhaupt stabil wahrnehmen zu können", sagt Vosgerau. Es ist eine ständige Aufgabe des Gehirns, die eigenen Bewegungen und die Änderungen der Wahrnehmung miteinander zu verrechnen.

Modelle aus der Psychologie und Neurowissenschaft, die einen Mechanismus für diese Unterscheidungsfähigkeit liefern, könnten helfen, unseren Sense of Agency besser zu verstehen. Nach dem "comparator model" beispielsweise berechnet das Gehirn anhand des Bewegungsplans die voraussichtlichen sensorischen Veränderungen. Diese werden dann mit den tatsächlich wahrgenommenen Veränderungen am Ende der Bewegung verglichen. Bei Übereinstimmung schreibt man die Handlung sich selbst zu.

Der Vergleich der vorhergesagten Bewegung mit dem tatsächlichen Zustand kann den Sense of Agency aber nicht vollständig erklären. "Auf der Gefühlsebene spüren wir natürlich, ob wir uns selbst bewegen oder nicht – das ist ein sehr grundlegender Prozess. Selbst Fliegen und Ameisen können das", sagt Vosgerau. Darüber hinaus gibt es aber noch eine nächsthöhere Ebene, auf der wir uns ein Urteil darüber bilden, wer eine Handlung verursacht hat. "Dabei spielen noch weitere Prozesse eine Rolle, wie zum Beispiel Hintergrundinformationen oder Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert."

Dies zeigten zum Beispiel Wissenschaftler um Andrea Desantis im Jahr 2011. In ihren Experimenten lösten Probanden per Knopfdruck mit einer Verzögerung einen Ton aus. Der Sense of Agency der Probanden ließ sich dabei durch Vorabinformationen beeinflussen. Er war stärker, wenn die Probanden glaubten, das Geräusch selbst zu verursachen, als wenn sie glaubten, jemand anders würde den Ton erzeugen. Selbst emotionale Faktoren wirken sich auf diese Form der Selbstwahrnehmung aus, wie Forscher um Axel Lindner von der Universität Tübingen im Jahr 2012 demonstrierten, indem sie ihre Probanden mit Bildern freundlicher oder trauriger Smileys subtil beeinflussten.

Vernetztes Ich

Welche Gehirnregionen bei einem Sense of Agency beteiligt sind, untersuchen Wissenschaftler auch mit Hilfe der Magnetresonanztomografie. Einige Gehirnregionen wurden in verschiedenen Studien immer wieder mit dem Sense of Agency in Zusammenhang gebracht – so zum Beispiel das Kleinhirn, der supplementär-motorische Kortex, der Parietallappen und die Inselrinde. Allerdings kann man kaum behaupten, dass eine dieser Regionen das Ich-Zentrum des Gehirns darstellt. Vermutlich werden in den Gehirnbereichen eher verschiedene Faktoren verarbeitet, die zu einem Sense of Agency führen.

"Dass motorische Regionen involviert sind, erstaunt wenig, da sehr viele Hinweise aus diesem Bereich kommen", sagt Vosgerau – wichtige Anhaltspunkte also für die Konstruktion des Gefühls der Urheberschaft, wie motorische Vorhersagen, propriozeptive Informationen und die Bewegungssteuerung. "Aber dies sind nur Hinweise – und keine echten Marker von Urheberschaft oder Selbstbewusstsein." Ähnliches gilt auch für die anderen Regionen. "Das Kleinhirn ist viel mit Vorhersagen von Handlungen befasst", erklärt David. "Im Parietallappen finden visuell-räumliche Analysen statt, und es werden Diskrepanzen zwischen dem Bewegungsplan und dem visuellen Feedback angezeigt." Der Inselrinde schreiben Wissenschaftler um Jaqueline Nadel vom Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris nach einer großen Metaanalyse verschiedener Studien im Jahr 2011 eine gesonderte Funktion zu. Hier laufen diverse Prozesse zusammen. "Allerdings wird die Inselrinde nicht in allen Studien gefunden", erklärt David. Sie spiegelt also nicht alle Aspekte des Sense of Agency wider.

Alles deutet darauf hin, dass es nicht ein Agency-Zentrum gibt, sondern ein Netzwerk von Nervenzellen in unterschiedlichen Gehirnbereichen. Wissenschaftler um Fatta Nahab von der University of Miami identifizierten im Jahr 2011 beispielsweise verschiedene Netzwerke, die nacheinander aktiv werden, wenn Probanden die Kontrolle über die Bewegung einer virtuellen Hand verlieren. Ein frühes Netzwerk, zu dem auch die Inselrinde gehört, leitet Informationen an ein spätes Netzwerk weiter, das höhere Hirnregionen umfasst. Demnach entstünde ein Sense of Agency erst in diesen höheren Netzwerken.

"Wenn man etwas über die Mechanismen lernen will, die dem Sense of Agency zu Grunde liegen, muss man auch den zeitlichen Aspekt berücksichtigen. Und hierzu gibt es noch viel zu wenige Studien", meint David. Die Suche geht also weiter – und sie lohnt sich. Denn schon allein der Prozess des Suchens hilft dabei, besser zu verstehen, was das Selbst eigentlich ist. Man darf gespannt sein, was Psychologen, Neurowissenschaftler und Philosophen in gemeinsamer Arbeit noch alles über das Selbst herausfinden werden.

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  • Quellen

Kalina, C. et al.: Specifying the self for cognitive neuroscience. In: Trends in Cognitive Sciences 15(3), S. 104–112, 2011

David, N.: New frontiers in the neuroscience of the sense of agency. In: Frontiers in Human Neuroscience 6, S. 161, 2012

Desantis, A. et al.: On the influence of causal beliefs on the feeling of agency. In: Consciousness and Cognition 20(4), S. 1211–1220, 2011

Legrand, D., Ruby, P.: What is self-specific? Theoretical investigation and critical review of neuroimaging results. In: Psychological Review 116(1), S. 252–282, 2009

Nahab, F.B. et al.: The Neural Processes Underlying Self-Agency. In: Cerebral Cortex 21(1), S. 48–55, 2010

Sperduti, M. et al.: Different brain structures related to self- and external-agency attribution: a brief review and meta-analysis. In: Brain Structure and Function 216(2), S. 151–157, 2011

Synofzik, M. et al.: The experience of agency: an interplay between prediction and postdiction. In: Frontiers in Psychology 4, 2013

Tagini, A., Raffone, A.: The 'I' and the 'Me' in self-referential awareness: a neurocognitive hypothesis. In: Cognitive Processes 11(1), S. 9–20, 2010

Wilke, C. et al.: The valence of action outcomes modulates the perception of one's actions. In: Consciousness and Cognition 21(1), S. 18–29, 2012

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