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Gesellschaft: Der Rausch ist ein Ventil

Die Soziologin Yvonne Niekrenz von der Universität Rostock erklärt, warum kollektive Enthemmung für viele von uns ein fester Bestandteil des Lebens ist.
Trommler auf einer Karnevalsfeier

Frau Doktor Niekrenz, Sie haben über den rheinischen Straßenkarneval promoviert. Was war das Ergebnis Ihrer Untersuchung?

Ausgangspunkt war für mich die Beobachtung, dass es in jeder Gesellschaft bestimmte Enklaven gibt, in denen die üblichen Regeln des Alltags vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Ob das nun das Oktoberfest ist oder der Karneval, Fußballspiele oder Musikfestivals, hier kommt es regelmäßig zu »rauschhaften Vergemeinschaftungen«, wie ich es nenne – die Ausgelassenheit und das Überschreiten der sonst gültigen Konventionen stiftet eine besondere Form von Zusammengehörigkeit. Mich hat interessiert, wie es dazu kommt. Laut der Auswertung meiner Interviews scheinen dafür feste Rahmenbedingungen besonders wichtig zu sein. Ein auffälliges Merkmal von solchen außeralltäglichen Situationen ist ihr stark reglementierter, fast schon ritueller Charakter. Anfang und Ende des Feierns, der genaue zeitliche Ablauf, die Verkleidungen, der Fundus an Liedern, die man singt – diese Dinge geben dem scheinbar so hemmungslosen Rausch ein recht enges Schema vor. Das gilt für den Karneval ebenso wie etwa für das Fanverhalten im Fußballstadion.

Es scheint, als müsse man gerade Ereignissen, bei denen Menschen ihre Hemmungen fallen lassen, einen Rahmen geben.

Das ist richtig. Beim Karneval etwa wird viel getrunken und getanzt, man singt, reißt Witze, lässt sich gehen. All das sind Formen der Enthemmung. Solche rauschhaften Events sind jedoch sowohl zeitlich als auch räumlich meist eng beschränkt – sie dauern maximal ein paar Tage, mit einem klar definierten Ende, und sie vollziehen sich an bestimmten, öffentlichen Orten. Das hat auch etwas damit zu tun, dass man umso mehr »Gas gibt«, wenn man weiß, dass Aschermittwoch schon wieder alles vorbei ist. Aber nicht nur Karneval ist endlich, sondern auch das Leben selbst. Dieser Memento-mori-Gedanke – die Einsicht in die Vergänglichkeit – ist zum Beispiel in bekannten Trinksprüchen enthalten: »So jung kommen wir nicht wieder zusammen.« Und wenn wir uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnern, ist das oft ein wichtiger Antreiber und steigert den Exzess.

Yvonne Niekrenz | (geboren 1980 in Güstrow) studierte Soziologie und Germanistik in Rostock. Nach Stationen an der Universität Bielefeld und der Leuphana Universität Lüneburg forscht und lehrt sie derzeit an der Universität Rostock.

In der Psychologie gibt es die Terror-Management-Theorie, wonach die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit Menschen zusammenschweißt und beispielsweise patriotischer macht. Konnten Sie das bestätigen?

Unbedingt. Gerade im Karneval kann man beobachten, wie sich vollkommen Fremde in den Armen liegen und den Moment zelebrieren. Die Gemeinschaft der Feiernden ist für kurze Zeit wie eine große, glückliche Familie. Das schließt aber keine Verpflichtungen ein. Nach dem Fest geht jeder seiner Wege.

Warum tun Menschen so etwas? Welche Funktion erfüllt es?

Für viele stellt es offenbar eine Art Ventil dar. Diese Metapher tauchte auch in meinen Gesprächen im Kölner Karneval immer wieder auf. Das exzessive, ausgelassene Feiern ist für die meisten Karnevalisten wie eine Art Reinigungsritual, das einen von der Last des Alltags befreit. Das funktioniert naturgemäß aber nur dann, wenn irgendwann auch wieder Schluss damit ist und man wieder in den üblichen Bahnen weiterlebt – und sich auf die nächste Sause im folgenden Jahr freut.

Muss man für solche Sozialforschung eigentlich selbst auch karnevalsbegeistert sein oder haben Sie damit privat weniger am Hut?

Ich komme aus dem karnevalsfernen Norden und hatte für meine Forschung eine gute wissenschaftliche Distanz, mit der ich ganz unvoreingenommen fragen konnte, wie dieses Spektakel eigentlich funktioniert. Die Menschen im Rheinland haben mir mit ihrer herzlichen Offenheit alles beantwortet und mich zum Feiern mitgenommen.

Es gibt viele Formen des Rauschs. Haben diese einen gemeinsamen Nenner?

Meist werden die substanzgebundenen Rauschzustände, ausgelöst etwa durch Drogen wie Alkohol, Marihuana oder LSD, von den nicht substanzgebundenen unterschieden. Musik, Tanz und Lichteffekte auf Festen, Konzerten oder organisierten Events wie Gaming Conventions oder auch Sportveranstaltungen können berauschend wirken. Gemeinsam haben solche Veranstaltungen, dass sich das Individuum dabei als Teil eines kollektiven Ausnahmezustands erleben kann.

Ist der Rausch ein Vorrecht der Jugend oder gibt es ihn in jedem Alter?

Viele Rauschformen sind körperlich anstrengend, es geht dabei auch um Grenzerfahrungen wie etwa beim Durchfeiern oder beim nächtelangen Computerspielen. Das geht an die Substanz und wird entsprechend eher von jungen Leuten praktiziert, die sich schneller wieder davon erholen können. Es gibt allerdings durchaus auch den »seniorengerechten« Rausch – das sind dann meinetwegen die Wagner-Festspiele in Bayreuth oder Stammtischrunden.

Enthemmung fördert nicht nur originelle Gedanken, sondern auch Impulse, die sonst durch soziale Konventionen gedeckelt werden

Sie haben die Ventilfunktion angesprochen. Gibt es weitere gesellschaftliche Funktionen des Rauschs?

Nun, die genannten Ereignisse haben häufig einen gemeinsamen Nenner: Sie stiften Gemeinschaft. Statt sich allein zu Hause einem Rausch hinzugeben, hat es schon eine besondere Note, gemeinsam mit anderen ein Konzert oder Happening zu erleben. Man fühlt sich dabei häufig als Teil eines größeren Ganzen. Für jüngere Menschen steckt darin meist auch ein Moment der Identifikation. Man gehört eben zu diesen oder jenen Musikfans. Menschen bekommen hier eine Vorstellung von gemeinschaftlichem Zusammenhalt.

Steckt darin nicht immer auch ein Moment der Abgrenzung von anderen, bis hin zu den einander feindlich gesinnten Lagern verschiedener Fußballklubs oder benachbarter Karnevalshochburgen?

Ja, mit dem Wir-Gefühl wächst meist auch das Trennende, manchmal sogar das Ressentiment gegenüber anderen. Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind insofern ambivalent, sie können den Einzelnen mitunter zu Verhalten anstiften, das derjenige, nüchtern betrachtet, gar nicht gutheißt. Exzessiver Alkoholgenuss etwa oder auch gewalttätiges Handeln. Bei allen positiven Aspekten des Rauschs gilt es darauf zu achten, dass Menschen sich und anderen dadurch nicht allzu sehr schaden. Auch aus diesem Grund sind feste Regeln und Grenzen wichtig. Nicht umsonst gibt es eine ganze Reihe von Regeln und Ritualen wie etwa den Karneval, die helfen können, den Rausch zu regulieren.

Rausch führt zu einer Enthemmung, die mal kreative Ideen freisetzt und mal dumpfen Vorurteilen und Gewalt zum Ausbruch verhilft. Wovon hängt das ab?

Das ist schwer zu beantworten. Sicherlich spielen dabei der Kontext und die Erwartung eine große Rolle. Wer wie zum Beispiel die Beat-Literaten der 1960er Jahre unter Drogeneinfluss künstlerisch produktiv sein will, hat im Rausch eben meist andere Offenbarungen als etwa Rocker bei kollektiven Trinkriten. Natürlich werden durch Enthemmung nicht nur originelle Gedanken oder Assoziationen gefördert, sondern auch Impulse, die sonst durch soziale Konventionen gedeckelt werden. So können sich rassistische Ausfälle oder andere höchst bedenkliche Tendenzen Bahn brechen. Für die Dauer des Rauschs wird das mitunter geduldet – nach dem Motto: Lass den nur reden, der ist doch besoffen. Aber Rauschzustände bergen eben eine Gefahr, die man nicht aus dem Blick verlieren sollte.

Viele Rauschzustände könnte man auch allein im stillen Kämmerlein herbeiführen, warum praktizieren wir das dennoch eher in Gemeinschaft?

Rausch dient oft dazu, Gesellschaft im Kleinen zu erproben. Gesellschaft ist ja zunächst etwas sehr Abstraktes. In solchen Vergemeinschaftungen wie beim Karneval wird dies in konkret Erfahrbares überführt. Das ist wichtig für den sozialen Kitt. Das bedeutet, wir fühlen uns in diesem Ausnahmezustand der jeweiligen Gruppe besonders verbunden und identifizieren uns mit ihr, ob nun mit dem Sportklub oder einer Musikgruppe oder auch einer lokal definierten Gemeinschaft.

Sollten wir offener mit Rauschzuständen umgehen?

Der jüngste Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung weist deutlich darauf hin, welches Gefahrenpotenzial etwa in der Legalisierung von weichen Drogen wie THC liegen kann. Ich denke, das sollte man auf keinen Fall vergessen. Viele Substanzen sind an sich verboten, der Konsum geringer Mengen wird aber geduldet oder zumindest nicht strafrechtlich verfolgt. Die mit Abstand verbreitetste Droge, der Alkohol, ist dagegen nahezu frei zugänglich. Zwar gibt es ein Abgabeverbot an Minderjährige und mancherorts kommt man nach 22 Uhr nicht mehr so leicht an Alkohol heran, aber die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schäden durch Alkohol sind schon immens. Es ist durchaus sinnvoll, die Verfügbarkeit insbesondere des substanzgebundenen Rauschs zu regulieren. Um ihre guten Seiten hervorzubringen, müssen rauschhafte Ereignisse und Zustände kanalisiert werden und brauchen Regeln – selbst wenn dies lediglich rituelle Festlegungen sind.

Leben wir aber nicht in einer Zeit, die den Rausch zur Pflicht, gar zum Dauerzustand erhebt?

Rausch bedarf per Definition auch Phasen der Nüchternheit. Permanenter Rausch ist Sucht, also pathologisch. Wer sich allabendlich betrinkt oder andauernd in Onlinespielen den Kick sucht, hat ein Problem und braucht meist Hilfe. Die wachsende Zahl an Verhaltenssüchten weist darauf hin, dass wir in der heutigen Gesellschaft dafür zumindest stärker sensibilisiert sind. Die »Festivalisierung« des modernen Lebens wurde von Soziologen bereits vor einiger Zeit diagnostiziert. Sie wird erstens dadurch getrieben, dass der Rausch zu einem riesigen lukrativen Markt geworden ist. Man überhäuft uns mit Angeboten, uns zu berauschen. Zweitens haben Erlebnisse dem materiellen Besitz vielfach den Rang abgelaufen, was das soziale Prestige angeht. Wir zeichnen uns heute gegenüber anderen weniger dadurch aus, was wir haben, als vielmehr durch das, was wir erleben: exotische Urlaube, tolle kulturelle Events, sportliche Verausgabung und so weiter. Selbst Einkaufen oder zum Friseur gehen soll heute zu einem besonderen Erlebnis werden. Hier haben wir es oft mit einer Inflation dessen zu tun, was einmal ein Rausch war. Das nutzt sich allerdings schnell ab, es gibt keinen Rausch ohne meist längere Pausen dazwischen.

Hilft uns der kleine, wohl dosierte Rausch dabei, das Leben zu meistern?

Es hilft durchaus, sein Augenmerk auf die beiläufigen »Alltagsräusche« zu richten, die uns Befriedigung verschaffen. Auch Gefühle können berauschen – etwa die Nähe zu anderen Menschen, die Anstrengung im Sport oder der Genuss von Musik. Es müssen nicht immer die ganz großen Erlebnisse damit verbunden sein.

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