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Pterosaurier: Herrscher des Urzeithimmels

Anhand von Fossilien und mathematischen Modellen versuchen Paläontologen zu ergründen, wie die riesigen Flugsaurier sich einst in die Lüfte erhoben haben.
Pteranodon im Flug

Das Erdmittelalter von vor 252 bis vor 66 Millionen Jahren gilt als Zeitalter der Dinosaurier. Tatsächlich beherrschten die »schrecklichen Echsen« die Lebensräume an Land – doch die Lufthoheit blieb anderen Giganten vorbehalten: den mit ihnen verwandten Pterosauriern.

Lange bevor Vögel vom Boden abhoben, eroberten die Flugsaurier den Himmel und waren somit die ersten Wirbeltiere, die aktiv fliegen konnten. Mehr als 160 Millionen Jahre lang gediehen sie, um dann gegen Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren zusammen mit allen Dinosauriern außer den Vögeln zu verschwinden. In dieser Zeit entwickelten sich bei ihnen einige der außerordentlichsten anatomischen Anpassungen, die es jemals bei Tieren gab (siehe »Groß und gruselig«). Die kleinsten unter den fliegenden Raubtieren besaßen die Ausmaße eines Spatzen. Die Flügelspannweite der größten entsprach der eines kleinen Düsenjets. Bei vielen von ihnen war der Kopf größer als der Körper. Als fliegende Schlünde patrouillierten Pterosaurier über alle Ozeane und Kontinente der Erde. Kein Tier des Erdmittelalters blieb vor ihrem scharfen Blick sicher.

Im Gegensatz zu den Dinosauriern, die als Vögel bis heute überdauerten, besitzen die Pterosaurier keine noch lebenden Nachfahren. Deshalb stammen alle Erkenntnisse über sie ausschließlich von Fossilien. Doch die leider nur lückenhaft überlieferten Funde vermitteln uns bloß einen blassen Schimmer der einstigen Pracht dieser Reptilien und hinterlassen eine Fülle an Fragen zu ihrer bizarren Anatomie sowie ihrem unglücklichen Schicksal. Über solche Rätsel brüten Paläontologen schon seit Jahrzehnten. Neue Fossil­funde kombiniert mit mathematischen Modellen, welche die anatomischen Strukturen stark vereinfachen, um physikalische Eigenschaften wie Kraft, Masse oder Geschwindigkeit abzuschätzen, erlauben inzwischen aber überraschende Einblicke. Demnach waren die Flugsaurier noch außergewöhnlicher, als wir es uns jemals vorgestellt haben.

Mysteriös erscheint vor allem, wie die größten Vertreter der Gruppe sich überhaupt in die Luft erheben konnten. Giganten wie Quetzalcoatlus, der zuerst in Texas entdeckt wurde, und Hatzegopteryx aus dem heutigen Rumänien erreichten Ausmaße einer Giraffe und besaßen Flügelspannweiten von über zehn Metern. Der Unterkiefer dieser Tiere war doppelt so lang wie der eines Tyrannosaurus rex. Der Umfang ihrer Oberarme entsprach dem des Rumpfs eines erwachsenen Menschen. Mit einem Gewicht von mehr als 300 Kilogramm wirkten sie wie wahre Monster. Zum Vergleich: Einer der größten Vögel, der jemals vom Boden abhob – der vor sechs Millionen Jahren im heutigen Argentinien heimische Argentavis –, wog wahrscheinlich weniger als 75 Kilogramm.

Einzigartige Anatomie

Wegen des eklatanten Gewichtsunterschieds zwischen Vögeln und Pterosauriern bezweifelten etliche Wissenschaftler, dass die größten Vertreter überhaupt fliegen konnten – trotz der dann rätselhaft erscheinenden anatomischen Anpassungen an den Flug. Andere vermuteten, die Reptilien hätten nur unter besonderen Umweltbedingungen abheben können, etwa auf Grund einer dichteren Atmosphäre als heute. Unbestreitbar könnten Vögel solcher Ausmaße nicht fliegen: Wie Berechnungen von mir und weiteren Forschern ergaben, hätte es ihre Kräfte überfordert, sich in die Luft zu erheben.

Aber Pterosaurier waren keine Vögel. In den letzten Jahren haben meine Kollegen und ich mehrfach die nötige Kraft der Tiere ermittelt, um vom Boden zu starten und zu fliegen. Damit konnten wir nicht nur nachweisen, dass riesige Vertreter dieser Gruppe das tatsächlich schafften, sondern auch, dass es dafür vermutlich noch nicht einmal besonderer Voraussetzungen bedurfte. Geochemische Analysen von Sedimentgesteinen sowie mikroanatomische Untersuchungen an Pflanzenfossilien bestätigen das: Demnach unterschieden sich die Luft- und Landschaftsverhältnisse in der oberen Kreide – der Blütezeit der großen Pterosaurier – nicht nennenswert von den heutigen. Anders und einzigartig war vielmehr die Anatomie der Giganten.

Damit ein Tier auch bei gewaltiger Größe fliegen kann, sind drei Dinge notwendig. Erstens bedarf es eines im Verhältnis zur Masse sehr kräftigen Skeletts, also eines mit großem Volumen und geringer Dichte. So etwas zeichnet sowohl Flugsaurier als auch Vögel aus: Viele ihrer Knochen sind hohl. Beispielsweise besaß der Oberarmknochen von Quetzalcoatlus lediglich eine Wandstärke von drei Millimetern – was der Schale eines Straußeneies entspricht –, doch der Durchmesser des Knochens betrug am Ellenbogen mehr als 25 Zentimeter.

Groß und gruselig | Sämtliche Pterosaurier besaßen eigenartige Proportionen. Stark umgestaltete Handknochen dienten als Gerüst für die Flügel, der Kopf war im Verhältnis zum übrigen Körper außerordentlich groß. Spätere Vertreter entwickelten einen noch extremeren Körperbauplan mit überproportional riesigem Kopf. Bei manchen kreidezeitlichen Gattungen wie Quetzalcoatlus machten Kopf und Hals mehr als 75 Prozent der gesamten Körperlänge aus. Letztlich dürfte die gewaltige Körpergröße den Reptilien am Ende der Kreide zum Verhängnis geworden sein.

Zweitens brauchen riesige Flieger einen hohen maximalen Auftriebsbeiwert. Diese Zahl beschreibt, welchen Auftrieb die Flügel bei gegebener Geschwindigkeit und Fläche erzeugen. Mit einem höheren Wert kann ein Tier schwerer sein, weil seine Flügel auch bei geringerer Geschwindigkeit mehr Masse tragen. Dadurch vermag das Individuum mit einem niedrigeren Tempo abzuheben, was sich erheblich auf die zum Starten erforderliche Muskelkraft auswirkt. Flughäute wie die der Pterosaurier und Fledermäuse liefern je Geschwindigkeits- und Flächeneinheit mehr Auftrieb als die gefiederten Flügel der Vögel. Das verbessert die Manövrierfähigkeit bei geringer Geschwindigkeit – kleinere Tiere können engere Kurven fliegen, während es größeren Start und Landung erleichtert.

Die dritte und wichtigste Voraussetzung ist eine ausreichende Kraft beim Start. Selbst mit sehr leistungsfähigen Flügeln muss ein schweres Flugtier eine starke Sprungkraft aufbringen, um sich in die Luft zu erheben. Einfach nur mit den Flügeln zu schlagen, genügt nicht, und auch ein Sturz von Klippen oder anderen erhöhten Stellen hilft wenig. Flügel erzeugen bei geringem Tempo kaum Auftrieb, und ein Start mit Hilfe der Schwerkraft erfordert eine Beschleunigung in die falsche Richtung – ein gefährliches Unterfangen. Ein Sprung dagegen liefert die notwendige Geschwindigkeit und Höhe, um den Flug zu beginnen. Je stärker dabei die Kraft ist, desto leichter gestaltet sich das Abheben. Große Flieger müssen deshalb gute Springer sein.

Viele Vögel sind entsprechend zu beeindruckenden Hüpfern in der Lage. Ihre Abstammung als theropode Dinosaurier legt ihnen jedoch eine Beschränkung auf: Wie ihre Vorfahren laufen alle Vögel auf zwei Beinen. Pterosau­rier dagegen waren am Boden Vierbeiner. Zusammengefaltet konnten sie ihre Flügel zum Laufen und damit auch zum Springen verwenden. Zahlreiche ausgezeichnet erhaltene fossile Spuren bestätigen als »Startbahnen« diese anatomische Kuriosität. Vierfüßigkeit verändert drastisch die Maximalgröße von Fliegern. Indem Pterosaurier nicht nur ihre Hintergliedmaßen zum Start benutzen konnten, sondern auch die viel größeren vorderen Extremitäten, verfügten sie dafür über mehr als doppelt so viel Kraft. Somit besaßen sie die ideale Merkmalskombination, um sich zu fliegenden Monstern zu entwickeln (siehe »Auf und davon«).

Frühere Studien modellierten das Abheben großer Flugsaurier noch auf der Grundlage von zwei Beinen. So berechneten der Paläontologe Sankar Chatterjee von der Texas Tech University und der kanadische Aerodynamik­experte Jack Templin 2004, wie sich Quetzalcoatlus ausschließlich mit seinen Hinterextremitäten in die Luft hätte erheben können. Demnach hätte das Tier nicht mehr als 75 Kilogramm wiegen dürfen und bei Gegenwind bergab laufen müssen. Ein vierbeiniger Start dagegen erlaubt ein realistischeres Körpergewicht und setzt weniger einschränkende Umweltbedingungen voraus.

Abgesehen von ihrer beeindruckenden Gesamtgröße zeichnen sich die Flugsaurier durch geradezu bizarre Körperproportionen und seltsam gestaltete Gliedmaßen aus. Von sämtlichen Wirbeltieren besaßen sie wohl die am stärksten spezialisierten Vorderextremitäten, deren immens vergrößerter vierter Finger den Flügel trug. Das überrascht kaum, ermöglichte doch erst die ungewöhnliche Hand­konstruk­tion als unverzichtbares Element des Pterosaurierflügels die Flugfähigkeit der Reptilien. Was aber sowohl Wissenschaftler als auch Fossiliensammler verwirrt, sind nicht die Flügel der Pterosaurier, sondern deren Köpfe.

Bereits die ersten Flugsaurier besaßen extravagante Schädel: Bei Rhamphorhynchus beispielsweise, einer typischen Gattung aus dem oberen Jura vor etwa 150 Millionen Jahren, war er fast so lang wie der gesamte übrige Körper. In der Kreidezeit nahm der Kopf noch extremere Ausmaße an. Wie man an Fossilien wie Quetzalcoatlus oder auch an Anhanguera aus Brasilien erkennt, wuchsen die Pterosaurier zwar insgesamt an, ihre Köpfe erreichten allerdings geradezu gigantische Ausmaße. Ein klas­sischer Flugsaurierschädel aus der Kreide konnte unter Umständen zwei- bis dreimal länger sein als das restliche Skelett zwischen Schultern und Hüften. In manchen Fällen übertraf der Schädel die Körperlänge sogar um das Vierfache. Dabei war jedoch der Hirnschädel dieser Tiere nicht übermäßig groß. Vielmehr erschienen vor allem Gesicht und Unterkiefer unfassbar stark verlängert. Das extravagante Äußere trieben anatomische Besonderheiten wie Knochenspangen am Unterkiefer oder aufragende Schädelkämme weiter auf die Spitze. Insgesamt wirkte der Kopf so, als gehörte er zu einem ganz anderen Wesen.

Auf und davon | Auch die größten Pterosaurier waren eindeutig ans Fliegen angepasst, wogen aber vermutlich über 250 Kilogramm – weit mehr als die größten flugfähigen Vögel, die wir kennen. Wie konnten sich solche Giganten in die Luft erheben? Während Vögel nur auf den Hinterextremitäten laufen und mit ihnen abspringen, gingen Flug­saurier, wie wir von fossilen Spuren wissen, auf allen vieren. Mathematische Modelle deuten darauf hin, dass ein Start aus dem Vierfüßlerstand, bei dem das Individuum sich zuerst mit den Hinter- und dann mit den Vordergliedmaßen abstieß, die zum Abheben erforderliche Sprungkraft lieferte. Die kräftige Flugmuskulatur der Vorderextremitäten konnte so mitgenutzt werden, um die riesigen Tiere in die Luft zu katapultieren.

Die Kuriositäten enden damit nicht. Während bei den meisten Tieren einschließlich des Menschen die Halswirbel zu den kleinsten Skelettbestandteilen zählen, waren sie bei den Flugsauriern oftmals die größten. In vielen Fällen hatten sie das doppelte Volumen der Rumpfwirbel. Ein besonders anschauliches Beispiel für diesen Trend liefert einer der jüngsten Zuwächse im Stammbaum der Pterosaurier: 2019 beschrieb ich zusammen mit anderen Forschern Fossilien aus der kanadischen Provinz Alberta. Wir gaben der neuen Art den Namen Cryodrakon boreas, was so viel bedeutet wie »frostiger Drache des Nordens« – offiziell eine Referenz an den Fundort, inspiriert aber durch den Drachen Viserion aus der Fernsehserie »Game of Thrones«. Dieses Monster besaß Halswirbel, die fast so lang und doppelt so dick wie die Oberarmknochen waren, also just jene Skelettteile, an denen die meisten Flugmuskeln ansetzten und die es somit erst ermöglichten, das Individuum in der Luft zu halten. Bei anderen Spezies war der Hals dreimal so lang wie der Rumpf, und der Kopf war abermals dreimal so groß, so dass Kopf und Hals zusammen mehr als 75 Prozent der Gesamtlänge des Sauriers ausmachten. Warum besaß ein Tier derart groteske Proportionen? Und wie taugte ein solcher Körperbauplan zum Fliegen?

Die Hypothese des »Wenn es einfach wäre, könnte es jeder«

Über die Frage, wie die Flugsaurier zu ihrer aberwitzigen Anatomie gelangten, grübeln die Spezialisten noch immer; eine mögliche Erklärung bezeichne ich als die Hypothese des »Wenn es einfach wäre, könnte es jeder«. Kurz gesagt: Eine große Schnauze zum Fressen und eine auffallende Physiognomie als Signal für Paarungspartner und Rivalen wären für viele Tiere erstrebenswert, wenn der dafür notwendige hohe Aufwand dem nicht meist im Weg stünde. Säugetiere besitzen zum Beispiel einen mächtigen Hirnschädel; ihr Kopf müsste bei überdimensionierten Körpern sehr schwer werden. Flugsaurier gerieten vielleicht in eine Entwicklungsphase, bei der sich die Gesichtsproportionen von den Abmessungen der Schädelrückseite entkoppelten. Das hätte die Bildung von riesigen Kieferknochen ohne entsprechend mächtigen Hirnschädel ermöglicht.

Außerdem weisen Pterosaurierschädel zusätzliche Öf­fnungen auf; die größte davon, das Fenestra antorbitalis, lag vor den Augen. Dinosaurier besaßen diese Öffnung ebenfalls, doch bei den Flugsauriern ging die Evolution einen Schritt weiter: Das Loch wurde in manchen Fällen so umfangreich, dass das gesamte Skelett des Rumpfs hineingepasst hätte. Bei lebenden Tieren war das Fenster sicher durch Haut und anderes Gewebe verschlossen. Äußerlich fiel es somit kaum auf, aber es machte den Schädel im Verhältnis zum Volumen recht leicht. Darüber hinaus dürfte es in den Schädelknochen ähnlich wie bei heutigen Vögeln große luftgefüllte Hohlräume gegeben haben.

© 2009 Julia Molnar auf Direct Dimensions
Startender Flugsaurier

Trotz solcher Gewichtseinsparungen war der gewaltige Schädel vieler Pterosaurier wohl immer noch ziemlich schwer. Selbst wenn es vielleicht der Intuition widerspricht: Gerade die Tatsache, dass es sich um Flugtiere handelte, könnte ihnen zugutegekommen sein. Das Hauptproblem eines gewichtigen Kopfs liegt nicht in der Zunahme der Gesamtkörpermasse, sondern in seinem unverhältnismäßig hohen Einfluss auf den Körperschwerpunkt. Ein stattlicher Schädel, der dann auch noch auf einem langen Hals sitzt, verlagert den Schwerpunkt weit nach vorn. Für ein am Boden laufendes Tier ergibt sich so ein ernstes Problem: Die Vordergliedmaßen müssen sich in eine unbequeme, nach vorn gerichtete Position begeben, um das Individuum im Gleichgewicht zu halten. Die riesigen Vorderextremitäten der Pterosaurier dienten dagegen zum Fliegen.

Als Kevin Padian von der University of California in Berkeley den Gang der Flugsaurier rekonstruierte, wies er nach, dass die Vordergliedmaßen beim Laufen gerade richtig positioniert waren, um das Gewicht von Kopf, Hals und Brustkorb abzufangen. Dabei lieferten die Hinterbeine den größten Teil des Vortriebs. So trugen die Saurier das Gewicht des mächtigen Kopfs mit ihren besonders stämmigen Armen, während sie sich mit ihren eher normal entwickelten Hinterextremitäten vorwärtsschoben. Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf Krücken und belasten dabei Ihre Beine möglichst wenig: Sie setzen beide Krücken gleichzeitig nach vorn und verlagern darauf das gesamte Körpergewicht, um dann Ihre Beine vorwärtszuschwingen und abzusetzen, bevor sich der ganze Vorgang wiederholt. Entsprechend muss auch der Gang der Pterosaurier mit ihren langen Vordergliedmaßen ausgesehen haben.

Auf die Weise zu laufen, mag nicht besonders effizient erscheinen, aber es war praktikabel. Ohnehin bewegten sich die Pterosaurier vorwiegend in der Luft fort. Arten mit besonders langen, schmalen Flügeln ähnlich denen mancher heutiger Seevögel könnten monate- oder sogar jahrelang ununterbrochen geflogen sein und landeten vielleicht nur, um sich zu paaren oder Eier zu legen. Die Gattung Nyctosaurus besaß wahrscheinlich unter den Wirbeltieren aller Zeiten die leistungsfähigsten Flügel und konnte somit auch am längsten im Gleitflug bleiben.

Im Flug lässt sich das Problem des verschobenen Schwerpunkts viel einfacher bewältigen. Damit sich ein Tier stabil in der Luft halten kann, muss sein Auftriebs- mit dem Masseschwerpunkt übereinstimmen. Das mag bei einem Wesen mit übergroßem Kopf und entsprechend weit vorn liegendem Massezentrum ungünstig erscheinen; der Auftriebsschwerpunkt eines Pterosauriers lag hingegen bei der Flügelvorderseite. Deshalb brauchte das Tier den Flügelansatz nur geringfügig nach vorn abzuwinkeln, um Auftriebs- und Masseschwerpunkt zur Deckung zu bringen. Nach vorn gekippte Flügel können zwar ihrerseits Instabilitäten hervorrufen, aber deren Biegsamkeit sowie die schnellen, vom Kleinhirn gesteuerten Reflexe, über die jedes Wirbeltier verfügt, dürften das ausgeglichen haben.

Sieht man von den Schwierigkeiten mit der Stabilität einmal ab, bieten nach vorn gekippte Flügel auch einige wichtige Vorteile. Einerseits stellen dann ihre Spitzen den letzten Teil des Flügels dar, an dem die Strömung abreißen kann. Bei einem Strömungsabriss, der sich typischerweise bei niedriger Geschwindigkeit einstellt, verliert der Flügel plötzlich den Großteil seines Auftriebs. An den Spitzen wirkt sich das besonders katastrophal aus, weil der Sog des Flügels abrupt unterbrochen wird, was Vortrieb und Steuerung stark beeinträchtigt und den Luftwiderstand erhöht. Tritt diese Situation verzögert ein, erfolgen Start und Landung viel sanfter, was gerade für schwere Tiere wichtig ist. Insofern könnte ein riesiger Kopf für ein großes Flugtier mit flexiblen Flügeln sogar günstig erscheinen: Der Schwerpunkt verlagert sich nach vorn, was auch den Flügelschlag vorwärtszieht und den Strömungsabriss unterdrückt. Die Folge: Das Tier kann langsamer fliegen und größer werden.

Das Ende der Herrschaft

Etwa 80 Millionen Jahre lang blieben die Pterosaurier die einzigen aktiv fliegenden Wirbeltiere. Dann, im Jura vor rund 150 Millionen Jahren, erhob sich eine zweite Wirbeltiergruppe in die Lüfte: gefiederte Dinosaurier. Unter ihnen waren vierflügelige Wesen wie Microraptor und Anchiornis, außerdem die versiertesten Flieger aller Zeiten: Vögel. In der frühen Kreidezeit teilte sich eine vielgestaltige Vogelwelt den Himmel mit den Flugsauriern. Obwohl die ökologische Nische der Lüfte damit kräftig aufgemischt wurde, behielten die Pterosaurier unter den mittelgroßen bis großen Flugtieren insbesondere über offenen Lebensräumen die Oberhand. Die Vögel beschränkten sich im Wesentlichen auf stark bewachsene Regionen, wo sie mit ihrer geringen Körpergröße und ihrer Beweglichkeit im Vorteil blieben. Als Herrscher des freien Himmels konnten die Pterosaurier also ihre Stellung behaupten.

Als dann vor 66 Millionen Jahren ein Asteroid auf die Erde stürzte und die Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel vernichtete, endete auch die Herrschaft der Flugsaurier. Laut bisherigen Befunden schaffte es keine einzige Pterosaurierart über die Grenze am Ende der Kreidezeit: Alle gingen zu Grunde – wie auch die Mehrzahl der Vögel. Nur eine einzige Gruppe, die Neornithes oder »neuen Vögel«, überlebte. Doch diese eine Abstammungs­linie genügte, um abertausende neue Arten hervorzubringen und mit heute rund 11 000 anerkannten Spezies zur zweitgrößten Wirbeltiergruppe nach den Knochenfischen zu avancieren.

Warum ereilte die Flugsaurier am Ende der Kreide ein schlimmeres Schicksal als die Vögel? Ein Grund könnte in deren schierer Größe gelegen haben. Kaum ein Landtier, das ausgewachsen mehr als 20 Kilogramm wog, überlebte jene apokalyptische Phase. Und nicht nur massig zu sein, sondern auch in der Luft zu leben, dürfte sich doppelt verheerend ausgewirkt haben, denn große Flieger müssen meist gleitend unterwegs sein. Segeln hängt aber von geeigneten Wetterbedingungen ab. Beim Einschlag des Asteroiden verdampfte mit ihm ein Teil der Erdkruste, und als diese höchst energiereiche Wolke aus Gestein und Metall wieder in die Atmosphäre eintrat, setzte sie den Himmel rund um die Welt buchstäblich in Brand. Laut Segelflugexperten könnten nach dem Einschlag weltweit einen Monat lang die Voraussetzungen für Gleitflug gefehlt haben – genug, um alle Pterosaurier, die sich zur Nahrungssuche aufschwingen mussten, verhungern zu lassen.

Einfach nur klein zu sein, genügte jedoch genauso wenig – die meisten Vögel verschwanden ebenfalls. Die Überlebenden begnügten sich wahrscheinlich mit Futter wie Samen, das einen nuklearen Winter übersteht. Vielleicht konnten sie sich im Verborgenen aus der Schusslinie retten. Pterosaurier waren anscheinend keine Spezialisten für Samen, und sie verkrochen sich nicht. Wozu auch? Ein fünf Meter großes, Dinosaurier fressendes, fliegendes Ungeheuer muss sich nicht vor Gefahren verstecken – es ist die Gefahr.

Obwohl die Karriere der Flugsaurier mit ihrem Aussterben zu Ende ging, bleibt sie eine Erfolgsgeschichte: Die Tiere gelten als Inbegriff von Giganten der Lüfte und erwarben im Lauf ihrer Evolution eine atemberaubende Fülle anatomischer Merkmale, die weder vorher noch nachher bei irgendeiner anderen Gruppe so auftraten. Von ihnen haben wir viel über die Grenzen von Form und Funktion bei Tieren gelernt. Die Fossilien der Pterosaurier eröffnen uns spannende Einblicke in die Geschichte der Erde mit ihrer ökologischen Komplexität und offenbaren uns eine längst vergangene Welt voll fliegender Monster.

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  • Quellen

Chatterjee, S., Templin, R. J.: Posture, locomotion and palaeoecology of pterosaurs. Geological Society of America Special Publication 376, 2004

Hone, D. W. E. et al.: The wingtips of the pterosaurs: Anatomy, aeronautical function and ecological implications. Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology 440, 2015

Hone, D. W. E. et al.: Cryodrakon boreas, gen. et sp. nov., a late Cretaceous Canadian azhdarchid pterosaur. Journal of Vertebrate Paleontology 39, 2019

Palmer, C., Dyke, G.: Constraints on the wing morphology of pterosaurs. Proceedings of the Royal Society B, 2012

Witton, M. P., Habib, M. B.: On the size and flight diversity of giant pterosaurs, the use of birds as pterosaur analogues and comments on pterosaur flightlessness. PLoS One 5, e13982, 2010

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