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Coronavirus: Was der Wissenschaft jetzt bevorsteht

Raumsonden bleiben am Boden, Experimente müssen teils um Jahre verschoben werden. Das Coronavirus trifft die Forschung hart und wird sie verändern. Ein erster Überblick.
Das Very-Large-Array-Radioteleskop

Mit Viren ist die Europäische Raumfahrtagentur ESA eigentlich bestens vertraut. Die Sümpfe von Kourou, in denen Europa seit 40 Jahren seine Raketen startet, sind Gelbfiebergebiet. Ins Land – nach Französisch-Guayana – kommt nur, wer eine bestätigte Impfung gegen die Viruserkrankung vorweisen kann.

Gegen das neue Virus, das die ESA derzeit beschäftigt, gibt es allerdings keine Impfung und erst recht keine Impfbestätigung: Das Coronavirus hat längst auch die Raumfahrt erfasst und mit ihr fast alle anderen Bereiche der Wissenschaft. Experimente müssen gestoppt werden und Missionen verschoben. Großforschungseinrichtungen fahren den Betrieb herunter. Der Shutdown – das ist schon jetzt, in den ersten Tagen, klar – wird die Experimente einiger Forscherinnen und Forscher um Jahre verzögern. Andere Wissenschaftler versuchen, die Arbeit ihrer Gruppen bestmöglich aufrechtzuerhalten und sich auf eine Welt vorzubereiten, in der Wissenschaft anders betrieben und Wissen anders ausgetauscht werden könnte.

Zwei Startkampagnen liefen in Kourou, als der Betrieb am Montag vergangener Woche auf Anweisung der Behörden schlagartig eingestellt werden musste. Die russischen Techniker vor Ort, die im Auftrag der Europäer gerade eine »Sojus« startklar machten, durften ihre Rakete noch sichern. Dann sollten sie mit einem Charterflug in die Heimat gebracht werden.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unserer FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Noch ist unklar, wie lange die Zwangspause dauern wird. Sie wird die fein choreografierte Startabfolge des europäischen Raumflughafens aber sicherlich durcheinanderbringen. Im März kommenden Jahres sollte in Kourou zum Beispiel das neue James-Webb-Weltraumteleskop der NASA abheben. Nachdem zuletzt immer mehr NASA-Standorte geschlossen werden mussten, sind allerdings auch die Tests des Teleskops gestoppt. Es sei »schwer bis unmöglich«, die behördlichen Vorgaben zum Gesundheitsschutz beim Bau von Raumfahrzeugen umzusetzen, sagt NASA-Chef Jim Bridenstine. »Wo wir das nicht tun können, müssen wir die Arbeit einstellen und uns auf missionskritische Aktivitäten konzentrieren.«

Erst in zwei Jahren wieder zum Mars?

Dazu zählt – zumindest bislang noch – die Arbeit am Roboterfahrzeug Perseverance (ehemals »Mars 2020«), das im Sommer zum Mars starten soll. Verzögert sich der Abflug, dann besteht die nächste Flugmöglichkeit erst wieder in zwei Jahren. Die ESA hat diese Erfahrung bereits schmerzlich gemacht: Ihre Exomars-Mission, ebenfalls für Sommer geplant, musste vor zwei Wochen auf 2022 verschoben werden – wegen ausstehender Tests der Fallschirme und der Flugsoftware. »Das Coronavirus hatte daran sicherlich seinen Anteil«, sagt ESA-Chef Johann-Dietrich Wörner. »Zu behaupten, es wäre der einzige Grund gewesen, wäre aber unfair.«

Auch beim Large Hadron Collider (LHC) am Genfer CERN ist das Virus nicht der primäre Grund für den Stillstand – zumindest bislang nicht. Die Forschung am weltgrößten Teilchenbeschleuniger ruhte bereits seit Dezember 2018, um die Maschine zu reparieren und fit zu machen für künftige Aufgaben. Da auf dem riesigen CERN-Gelände zwischen Jura und Genfer See aktuell nur arbeiten darf, wer für die Sicherheit der Anlagen zuständig ist, sind auch alle Arbeiten am LHC eingestellt. Die Inbetriebnahme, bislang für Mai 2021 geplant, wird sich verschieben, heißt es beim CERN. Auf unbestimmte Zeit.

Das DLR wird »gezielt heruntergefahren«

Im Minimalbetrieb ist seit Donnerstag, 0 Uhr, auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt – mit etwa 9000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der größten Forschungseinrichtungen des Landes. Bereits vor drei Wochen habe ein zehnköpfiger Krisenstab damit begonnen, Notfallpläne umzusetzen, die seit der Sars-Pandemie 2002/2003 entwickelt worden waren, sagt DLR-Sprecher Andreas Schütz. Anfang vergangener Woche habe der Krisenstab dann entschieden, das Zentrum mit seinen 50 Instituten »gezielt herunterzufahren«. Inzwischen arbeiten fast alle Beschäftigten im Homeoffice – fernab von Windkanälen, Testständen, Forschungsflugzeugen. »Die Kolleginnen und Kollegen schreiben Anträge, verfassen wissenschaftliche Veröffentlichungen und machen all das, was schon lange liegen geblieben ist«, sagt Schütz.

Vor Ort arbeitet nur noch ein Rumpfteam, unter anderem im bayerischen Oberpfaffenhofen, am Deutschen Raumfahrtkontrollzentrum, das Europas Forschungsaktivitäten auf der Internationalen Raumstation ISS betreut. Am Kölner Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin gehen zudem fliegerärztliche Untersuchungen weiter, die festen Fristen unterliegen. Ein Notteam hält dort auch die Zellkulturen der Gravitationsbiologen am Leben. Alle Studien mit Probanden hat das DLR hingegen eingestellt.

»Es wird spannend, wie unsere Erfahrungen die künftige Entwicklung beeinflussen«
Andreas Wallraff

Gestoppt ist auch eine für April geplante Messkampagne des Forschungsflugzeugs HALO in Brasilien. Im Auftrag des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie wollten Wissenschaftler dort die Entstehung kleinster Partikel in der Atmosphäre über dem Regenwald untersuchen – eine Messkampagne, für die nur schwer eine Genehmigung zu bekommen war. »Natürlich bleiben Dinge liegen, und Experimente stehen still«, sagt Andreas Schütz. »Aber nichts von dem ist so wichtig, dass es nicht warten könnte.«

Rumpfcrew wird von den großen Teleskopen abgezogen

Verglichen damit sind Astronomen eigentlich in einer komfortablen Situation. Kein Forscher muss heutzutage mehr zu den großen Teleskopen reisen, um vor Ort die Sterne zu beobachten. Die Observatorien werden vielmehr im so genannten Servicemodus betrieben: Astronomen geben ihre Wunschobjekte an und erhalten wenig später Zugriff auf die Beobachtungsdaten – selbst im Homeoffice. Dass einige Techniker und Operatoren dabei vor Ort bleiben, ist allerdings unabdingbar. Um diese Mitarbeiter zu schützen, stellen nun immer mehr Observatorien den Betrieb ein. So soll – als eines der letzten großen Teleskope – das VLT der europäischen Südsternwarte ESO in Chile in der Nacht auf Dienstag zum vorerst letzten Mal beobachten.

Der Blick aufs Schwarze Loch entfällt | Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist Teil des Teleskopverbunds, der in den nächsten Wochen einen Blick auf das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße werfen wollte.

Besonders hart trifft dieser weltweite Betriebsstopp das Event Horizon Telescope (EHT) – einen globalen Verbund von elf Radioteleskopen. 2019 hatte das EHT das erste Bild eines Schwarzen Lochs präsentiert. Nun sollte vom 26. März bis zum 6. April die nächste Beobachtungsrunde starten, mit zusätzlichen Teleskopen und der Hoffnung auf bessere Bilder. »2020 wäre eine Schatztruhe an Daten geworden«, sagt Heino Falcke, Chef des EHT-Wissenschaftsrats. Daraus wird nichts.

Besonders bitter: Auf Grund der benötigten niedrigen Luftfeuchtigkeit und der Position am Nachthimmel lässt sich das Schwarze Loch nur im März und April vernünftig beobachten. Nachdem bereits 2019 die EHT-Messungen wegen Wartungsarbeiten und Sicherheitsbedenken einiger Teleskope ausfallen mussten, wird nun ein weiteres Jahr tatenlos vergehen. Davon, die Beobachtungen doch irgendwie durchzupeitschen, hält Falcke nichts. »Der Himmel läuft uns nicht weg«, sagt der Astronom. »Die Mitarbeiter haben genug Sorgen hier auf der Erde und müssen sich um ihre Familien kümmern.«

Konferenzen verschieben sich jetzt schon in die Digitalwelt

Mit einem Bild auf Twitter hat sich Quantenphysiker Andreas Wallraff am Mittwoch von seinem Labor an der ETH Zürich verabschiedet. Und mit einem Versprechen: »Wir werden unser Bestes tun, um die Wissenschaft voranzutreiben und vorbereitet zu sein, wenn wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können.« Auf dem Bild leuchten noch ein paar Dioden, und sie sollen es auch weiterhin tun: Vielleicht 10, maximal 20 Prozent der Kolleginnen und Kollegen könnten aus der Ferne an ihren Quantenexperimenten im Labor weiterarbeiten. »Andere analysieren Messergebnisse und bereiten Veröffentlichungen vor«, sagt Wallraff. »Wenn das Ganze allerdings länger dauert, hat es große Konsequenzen für den experimentellen Fortschritt.«

Noch hält Wallraff an der gewohnten Routine fest – so gut es eben geht: Das wöchentliche Gruppenmeeting mit mehr als zwei Dutzend Teilnehmern führt der Physiker online durch. Auch die Kaffeepausen, pünktlich um 10.30 Uhr und um 16.30 Uhr, hat er ins Internet verlegt. Wer Lust hat, schaut rein. »Insgesamt ist die Moral noch gut, auch weil der Gruppenzusammenhalt funktioniert«, sagt Wallraff. Nur an Reisen ist nicht zu denken. Viele Teammitglieder standen bereits am Flughafen, als die American Physical Society am 1. März ihr Frühjahrstreffen kurzfristig abgesagt hat – eine der weltweit wichtigsten Physikkonferenzen. Eine Woche später hielt Wallraff seinen ersten virtuellen Konferenzbeitrag. Problemlos. Solch digitalen Teilnahmen an realen Treffen könnte die Zukunft gehören, genauso wie Onlinekonferenzen, meint der Physiker. »Es wird spannend, wie die Erfahrungen, die wir nun machen, die künftige Entwicklung beeinflussen.«

Russische Eisbrecher machen Lieferdienst für die Polarstern | Die Kapitan Dranitsyn (rechts) wird von der Admiral Makarov aufgetankt. An Bord der Dranitsyn kamen Mensch und Material auf die Polarstern.

Einfluss hat die Pandemie selbst auf Experimente in den entlegensten Regionen der Erde: Am 9. April sollen in Kasachstan drei Astronauten zur ISS starten. Die Quarantäne vor dem Flug, bislang eher lax gehandhabt, wurde verschärft. Zuschauer sind keine erlaubt; nicht einmal die Familien der Astronauten dürfen vorbeikommen. Seit Herbst 2019 driftet zudem der im Eis eingeschlossene deutsche Forschungseisbrecher Polarstern durchs Nordpolarmeer. Im April wollte das Alfred-Wegener-Institut (AWI) die 100-köpfige Crew aus 20 Ländern eigentlich mit dem Flugzeug austauschen. Der Weg zur Polarstern führt allerdings über Norwegen, und dort müssen Reisende mit einer 14-tägigen Quarantäne rechnen. »Derzeit gehen wir davon aus, den Austausch trotzdem durchführen zu können, spielen aber verschiedene Optionen durch«, sagt AWI-Sprecher Sebastian Grote. Unter anderem seien Coronatests vor der Abreise aus der Heimat und vor dem Weiterflug zur Polarstern geplant.

Einer der wenigen Forschungsorte, die vom Coronavirus bislang überhaupt nicht betroffen sind, liegt am anderen Ende der Erde: Seit Ende Februar sind neun Überwinterer auf der deutschen Antarktis-Forschungsstation »Neumayer« komplett auf sich allein gestellt. Kein Flugzeug kann mehr landen. »Dort läuft alles wie gehabt«, sagt AWI-Sprecher Grote. Acht Monate lang, so der Plan, soll die Isolation andauern.

Die Welt, auch die wissenschaftliche, könnte danach eine andere sein.

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