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Artenschutz: Seid bereit für den Wolf

Der Wolf breitet sich aus. Immer weiter. Bis zu 1400 Territorien könnten die wilden Tiere sich künftig erobern. Je besser man sich vorbereitet, desto geringer die Probleme.
In allen Bundesländern mit Ausnahme des Saarlandes leben zumindest vereinzelt Wölfe.

Sich zu verstecken, fällt dem Wolf schwer. Seit der Graupelz erfolgreich nach Deutschland zurückgekehrt ist, sammeln Forscher Fell- und Kotproben, dokumentieren Fährten und werten Kamerafallen aus. Sie verpassen Wölfen Peilsender und verfolgen sie per Antenne. Tot aufgefundene Tiere werden obduziert, und eine aufwändige genetische Analyse aller verfügbaren Proben liefert die Grundlage für die jährliche Bestandsaufnahme.

Die aktuelle Zählung besagt: Deutschlandweit gibt es mittlerweile 173 feste Territorien, in denen Rudel, Paare oder standorttreue Einzeltiere leben. Im Jahr zuvor waren es noch 158 Wolfsterritorien. Ausgehend von der sächsischen Oberlausitz haben die wilden Tiere sich binnen der vergangenen 20 Jahre nach Nordwesten gewandt und kommen inzwischen in einem breiten Band vom Osten Sachsens bis an die niedersächsische Nordseeküste vor. In allen Bundesländern mit Ausnahme des Saarlandes finden sich zumindest vereinzelt Wölfe.

Es besteht also kein Zweifel, dass der Wolf sich ausbreitet. Aber wie geht es weiter? Die Art hat das Potenzial, noch mehr Gebiete zu besiedeln. Das geht aus einer im Mai 2020 publizierten Studie hervor. Je nach angewandtem Lebensraummodell liegt die Zahl möglicher Wolfsterritorien in Deutschland demnach zwischen 700 und 1400.

Das sind deutlich mehr als die bislang angenommenen 440 Territorien, was Stephanie Kramer-Schadt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung und der Technischen Universität Berlin, die federführend an der Studie beteiligt war, so erklärt: »Frühere Studien haben sich vornehmlich auf Daten aus Polen gestützt und dabei eine stärkere Bindung der Wölfe an Wälder angenommen. Inzwischen haben wir aber genug Daten aus Deutschland, und es zeigt sich, etwa in Mecklenburg-Vorpommern, dass der Wolf gut mit offeneren Lebensräumen zurechtkommt.«

Auffällig ist, dass Wölfe den Menschen dabei meiden und sich vornehmlich in relativ dünn besiedelten Landschaften niederlassen. Die Wissenschaftlerinnen und Forscher betonen, dass es sich bei den bis zu 1400 Territorien nicht um eine zu erreichende Zielgröße handelt, sondern nur um einen theoretischen Wert. In Zukunft sei vor allem in den Mittelgebirgen und im Alpenvorland mit der Zuwanderung von Wölfen zu rechnen, heißt es in dem Bericht.

Von Sachsen lernen, wie sich mit Wölfen leben lässt

Sachsen haben sich die Wölfe nach ihrer Rückkehr als Erstes erschlossen. Inzwischen ist der Osten des Bundeslands fast flächendeckend besiedelt. Doch selbst in der Lausitz leben immer mehr Tiere, und die Territorien würden sich verdichten, sagt Vanessa Ludwig, Referentin der Fachstelle Wolf beim Sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Das Nahrungsangebot für die Wölfe sei also wohl so gut, »dass sie auch mit kleineren Streifgebieten zurechtkommen«. Derzeit gibt es in Sachsen 28 Rudel und ein territoriales Paar.

»Viele Tierhalter reagieren erst, wenn sie selbst betroffen sind oder Fälle in unmittelbarer Nachbarschaft vorkommen«
Vanessa Ludwig, Referentin der Fachstelle Wolf

Mehr Wölfe bedeuten auch mehr Übergriffe auf Nutztiere, allerdings schwankt die Zahl der Schäden in der Lausitz von Jahr zu Jahr beträchtlich. »Das A und O ist der richtige Herdenschutz«, betont Ludwig. So seien 2020 die Schäden im Landkreis Bautzen nach einem starken Anstieg im Jahr 2019 wieder deutlich zurückgegangen – trotz mehr Wölfen. »Viele Tierhalter reagieren erst, wenn sie selbst betroffen sind oder Fälle in unmittelbarer Nachbarschaft vorkommen«, sagt Ludwig. Deswegen gebe es die größten Probleme auch in Gebieten, die sich der Wolf neu erschließt, wie derzeit etwa im Landkreis Nordsachsen nördlich von Leipzig. Wenn Wölfe wiederholt auf schlecht geschützte Nutztiere treffen, lernen sie, dass diese deutlich einfacher zu erbeuten sind als wild lebende Beutetiere, und jagen Schafe statt Frischlinge und Rothirsche.

Schäfer und Wolf

Welchen Einfluss hat der Wolf auf die Erhaltung artenreicher Kulturlandschaften wie Heiden und Almen? Ist die Weidetierhaltung wegen des Wolfs auf dem Rückzug, oder spielen andere Faktoren eine viel größere Rolle – etwa der Verfall der Woll- und Fleischpreise durch billige Konkurrenz aus Übersee? Nicht wenige Schäfer sind der Meinung, dass ihnen mit einer Weidetierprämie, mit der ihre Leistungen für den Landschaftsschutz honoriert würde, besser geholfen wäre als mit der Bejagung der Wölfe. Die Weidetierhaltung geht seit Jahren zurück, auch in Gebieten, in denen sich seit Langem kein Wolf mehr gezeigt hat. Dennoch wird es eine bundesweite Prämie voraussichtlich auch im Jahr 2021 noch nicht geben. Umweltverbände fordern seit Jahrzehnten, dass gerade solche »agrarökologischen Dienstleistungen« wie die Landschaftspflege durch Weidetiere besser honoriert werden müssten.

Damit Wölfe erst gar keinen Gefallen an Nutztieren finden, sollten sich Landwirtinnen und Landwirte also bestmöglich vorbereiten. Seit Januar 2019 hat die sächsische Landesregierung die maximale Förderfähigkeit von Präventionsmaßnahmen wie Elektrozäunen von 80 auf 100 Prozent erhöht. Seither machen deutlich mehr Tierhalter davon Gebrauch, und die Kosten für vorbeugende Maßnahmen stiegen im Freistaat von 184 000 Euro im Jahr 2018 auf 1,4 Millionen Euro im Jahr 2019. Die Finanzhilfen für den Schutz von Schafen und Ziegen stehen auch Hobbytierhaltern mit wenigen Tieren offen und gelten in ganz Sachsen.

Wölfe töten häufiger Schafe als Kälber

Das hilft, bewahrt aber nicht vor Verlusten. Immer wieder gelingt es den wilden Räubern, Nutztiere zu verletzen oder zu töten. Diese Schäden werden ebenfalls zu 100 Prozent entschädigt und liegen mit durchschnittlich 60 000 Euro pro Jahr deutlich unter den Kosten für sichere Ställe und Felder. Im Sommer 2019 wurde zudem eine Weidetierprämie für Schafe und Ziegen von 40 Euro pro Jahr und Tier eingeführt, allerdings nur für Betriebe, die mehr als 50 Tiere halten (siehe »Schäfer und Wolf«).

Bei den im Jahr 2019 deutschlandweit knapp 2900 von Wölfen getöteten oder verletzten Nutztieren handelte es sich zu 88 Prozent um Schafe oder Ziegen, sieben Prozent waren Gatterwild und vier Prozent Rinder, meist Kälber.

Im Schnitt töten die Räuber bei einem Angriff drei bis vier Tiere. Wildbiologen machen dafür nicht die Mordlust oder den großen Appetit der Wölfe verantwortlich, sondern das unnatürliche Fluchtverhalten der Schafe, die selbst bei der Flucht in der Herde verbleiben. Andere Tiere wie Hirsche oder Pferde haben ein natürlicheres Fluchtverhalten und sind wehrhafter. Für einzelne Tierhalter kann der Wolf ein ernstes Problem sein, aber die Zahlen sind auch in Relation zu setzen. In Deutschland werden mehr als 1,5 Millionen Schafe und 140 000 Ziegen gehalten – es sind also unter zwei Promille, die vom Wolf gerissen werden. Manche Experten schätzen die Verluste durch wildernde Hunde ähnlich hoch oder sogar höher ein, nur gibt es dazu keine deutschlandweite Statistik.

»Die Ängste, dass beim Pilzesammeln immer gleich der Wolf hinter einem steht, verschwinden, wenn das auch nach zehn Jahren nie passiert ist«
Vanessa Ludwig, Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie

Jenseits der nüchternen Zahlen bleibt es für Tierhalter allerdings sehr belastend, wenn sie ihre Tiere nach einem Riss tot auf der Weide auffinden, und die Durchführung der Schutzmaßnahmen bedeutet erheblich mehr Arbeit, die nicht entlohnt wird. Was zumindest teilweise den Hass erklären könnte, der dem Wolf mancherorts entgegenschlägt.

In der Lausitz immerhin beobachtet Ludwig, dass die Bevölkerung zunehmend entspannter mit dem Wolf umgeht. »Die Ängste, dass beim Pilzesammeln immer gleich der Wolf hinter einem steht, verschwinden, wenn das auch nach zehn Jahren nie passiert ist.« Selbst als in der Gemeinde Rietschen im Landkreis Görlitz Ende 2016 ein Wolf auffällig wurde und wiederholt an Komposthaufen im Ort nach Futter suchte, hätten die Anwohner sehr differenziert reagiert, berichtet Ludwig. Der Wolf verhielt sich nicht aggressiv, sondern suchte stets das Weite, wenn er direkt auf Menschen traf. Es stellte sich heraus, dass das Tier aus Polen stammte und als Welpe gefüttert worden war. Zur Sicherheit der Anwohner wurde der Wolf trotzdem zum Abschuss frei gegeben, was jedoch nie umgesetzt werden konnte, da er plötzlich verschwand und seither nicht mehr aufgetaucht ist.

Große Räuber sind wichtig für das ökologische Gleichgewicht

»Der Wolf und der Luchs sind ein natürlicher Teil unserer Landschaft, aber wir wissen bis heute sehr wenig über ihren Einfluss auf Beutetiere, den Wald, die Ausbreitung von Krankheiten oder die Nährstoffkreisläufe«, sagt Marco Heurich, Professor für Wildtierökologie im Nationalpark Bayerischer Wald. Vollständige Ökosysteme seien stabiler, und es sei vorstellbar, dass eine gesunde Wolfspopulation die Ausbreitung von Krankheiten wie der Afrikanischen Schweinepest oder von Parasiten wie dem Amerikanischen Leberegel bremsen kann.

Graupelze unter Beschuss

Seit der Rückkehr des Wolfs nach Deutschland im Jahr 2000 werden alle tot aufgefundenen Wölfe erfasst und untersucht. Von den 511 verzeichneten Fällen starben 387 durch Verkehrsunfälle und 50 durch Wilderei. Allein im aktuellen Berichtsjahr sind elf Wölfe illegal geschossen worden. Hinzu kommt eine beträchtliche Dunkelziffer. So wurden aktuell bei sieben im Straßenverkehr getöteten Wölfen Geschosspartikel nachgewiesen. Berühmtestes Beispiel ist die sächsische Wölfin mit dem Spitznamen »Einauge«, die 2013 bei einem Verkehrsunfall starb. Die Obduktion ergab, dass das Tier im Lauf seines Lebens mindestens zweimal beschossen worden war, dadurch ein Auge verloren hatte und humpelte. Trotzdem hat diese zähe Wölfin mehr als 42 Welpen geboren.

Wolf und Luchs verändern zudem das Verhalten ihrer Beutetiere und haben das Potenzial, deren Bestände zu limitieren. So habe man nach der Rückkehr der Luchse in den Nationalpark Bayerischer Wald seit dem Jahr 2012 die Jagd auf Rehe komplett eingestellt, ohne dass der Rehbestand in der Folge angewachsen sei. Man freue sich deswegen auch über den Wolf, der seit einiger Zeit mit zwei Rudeln im Grenzgebiet zur Tschechischen Republik vertreten sei. Beide Rudel hatten 2020 Nachwuchs.

Der Einfluss großer Raubtiere auf das Wild mache sich aber vor allem in naturnahen Landschaften mit harschem Klima bemerkbar, sagt Heurich. Die dort gewonnenen Forschungsergebnisse ließen sich nicht einfach auf stark vom Menschen geprägte Kulturlandschaften übertragen. In weiten Teilen Deutschlands seien die Jagd und die Gegenwart des Menschen wohl entscheidender für das Verhalten und die Bestandsentwicklung der Wildtiere. Heurich, der auch an der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen an der Universität Freiburg lehrt, sieht noch viel Forschungsbedarf. Die Rückkehr der Wölfe und Luchse böte eine einmalige Chance, den Einfluss großer Raubtiere auf unsere Ökosysteme zu untersuchen, trotzdem fehle dazu bislang ein groß angelegtes, deutschlandweites Forschungsprojekt.

Die Frage, wie wir unseren Lebensraum mit dem Wolf teilen wollen, könne die Wissenschaft aber ohnehin nicht beantworten, sagt Heurich. Das sei eine gesellschaftliche Frage.

Der Wolf jedenfalls ist flexibel. Er kommt gut bei uns klar – solange wir ihn lassen.

Der Wolf – ein soziales Wesen

Wölfe leben in Familienverbänden, die ihr Territorium gegen andere Wölfe verteidigen. In diesen Rudeln pflanzt sich meist nur ein Wolfspaar, bestehend aus Alphawolf und Alphawölfin, fort. Die Paarbindung hält oft ein Leben lang. Im Frühjahr bringt die Leitwölfin im Schnitt fünf Welpen zur Welt, die zwei Monate gesäugt werden und bereits im Alter von sechs Monaten mit dem Rudel auf die Jagd gehen.

Gejagt wird im Rudel. Wölfe sind auf Huftiere spezialisierte Hetzjäger. Treffen sie auf einen starken Hirsch oder Elch, der sich ihnen entgegenstellt, suchen sie sich lieber ein schwächeres Opfer. Flüchtet das Tier, wird es so lange gehetzt, bis es entkräftet ist und dann zur leichten Beute wird.

Studien aus Westpolen und Sachsen zeigen, dass der Speiseplan der hiesigen Wölfe etwa zur Hälfte aus Rehen und zu je einem Fünftel aus Hirsch und Wildschwein besteht. Daneben werden auch kleinere Tiere wie Hasen, Kaninchen oder Biber erbeutet. Nutztiere machen etwa ein Prozent der Wolfsnahrung aus.

Wolfsrudel in Deutschland bestehen aus drei bis elf Tieren und setzen sich aus dem Leitpaar und ihren Nachkommen der letzten zwei Jahre zusammen. Im Alter von ein bis zwei Jahren wandern die Jungwölfe ab, um sich einen Partner und ein eigenes Revier zu suchen. Dabei legen sie teils sehr große Entfernungen zurück. Der mit einem Sendehalsband versehene Jungwolf »Alan« aus Sachsen ist beispielsweise innerhalb von vier Monaten 1500 Kilometer durch ganz Polen bis nach Weißrussland gewandert.

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