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Meeresenergie: Strom aus dem Meer

Wellen und Gezeitenströmungen tragen enorm viel Energie in sich – die bisher kaum genutzt wird. Über eine große Chance und den mühsamen Weg dorthin.
Stromerzeugende Boje von CorPower

Zweimal am Tag drückt der Atlantik in die Bay of Fundy – und zieht sich nach sechs Stunden wieder zurück. Eine Wassermenge von 160 Milliarden Tonnen, mehr als die Flüsse der Erde enthalten, schieben die Gezeiten in der kanadischen Bucht hin und her. Der Gedanke, diese gewaltige Energieressource anzuzapfen, drängt sich geradezu auf. Und tatsächlich arbeitet an der Küste in Annapolis seit 35 Jahren ein Gezeitenkraftwerk, in dem das einlaufende Wasser ein Becken füllt und dabei eine Turbine antreibt.

Allerdings erschließt die Anlage nur einen winzigen Teil der in der Bucht verfügbaren Gezeitenenergie. Damit spiegelt sie das Dilemma einer ganzen Branche wider: Weltweit gibt es etliche Buchten, die sich für Gezeitenkraftwerke eignen würden. Und ufernahe Gewässerabschnitte, in denen man die Kraft der Wellen in elektrische Energie umwandeln könnte.

Doch bislang trägt die Meeresenergie fast nichts zum Strommix bei. Dabei sagten Experten ihr bereits vor zehn Jahren eine große Zukunft voraus: Sie könnte ein Vielfaches des globalen Strombedarfs liefern. Etliche Projekte gingen an den Start, zum Beispiel die »Seeschlange« Pelamis vor der Küste Schottlands oder SeaGen, ein »Windrad unter Wasser«, angetrieben von der Tidenströmung in der Meerenge von Strangford in Nordirland.

Windräder unter Wasser

Um Pelamis, SeaGen und viele andere Vorhaben ist es mittlerweile still geworden. »Damals kamen viele neue Unternehmen mit sehr rosigen Versprechen, entsprechend hoch waren die Erwartungen«, erinnert sich Jochen Bard vom Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik in Kassel, der seit vielen Jahren in der Branche aktiv ist. »Die Projekte kamen aber selten über eine Pilotphase hinaus und schafften es nicht, eine dauerhafte Finanzierung zu erhalten.«

Die Entwickler hätten aber viel gelernt, betont Bard, der als Forscher an SeaGen beteiligt war. Doch für einen Routinebetrieb reichte das nicht. Hierfür muss die Anlage zuverlässig laufen, bei Wind und Wetter, und teure Besuche von Technikern für Feineinstellungen und Reparaturen sollten eine Ausnahme sein. Doch in der Praxis ist das gar nicht so einfach: Die Ozeane sind wild, die Belastungen für die Bauteile enorm, die Logistik aufwändig.

»Hinzu kam die Wirtschaftskrise«, sagt Bard. Und mit der Windkraft ein übermächtiger Konkurrent. »Meeresenergien erfordern Investitionen von mehreren Millionen Euro, die erscheinen bei etablierten Offshorewindkraftanlagen sicherer angelegt als bei neuen Verfahren.« Windräder auf offener See wurden durch den massenhaften Ausbau immer billiger, weil es Standardteile wie Fundament, Turm oder Turbine gewissermaßen von der Stange zu kaufen gab. Meeresenergieprojekte blieben hingegen Unikate mit vielen Risiken.

Testplattform | In der kanadischen Bay of Fundy testet das Unternehmen Sustainable Marine Energy Turbinen für ein neues Tidenströmungskraftwerk.

Es ist bis heute eines der Kernprobleme der Branche: Es konkurrieren unterschiedliche technologische Ansätze, und kein Projekt gleicht dem anderen. Das macht Einzelteile und Entwicklung teuer. Etliche Unternehmen, etwa die Siemens-Tochter Voith Hydro, haben sich nach anfänglicher Begeisterung aus dem Geschäft zurückgezogen. All dies führte laut Bard dazu, dass der Vorsprung der etablierten Erneuerbaren wie Wind und Fotovoltaik gegenüber der Meeresenergie größer geworden ist.

Doch noch besteht Hoffnung, die Meeresenergien zu einem weiteren Standbein der erneuerbaren Energieversorgung auszubauen. Ingenieure suchen sich mittlerweile bevorzugt jene Nischen aus, die andere Energieerzeuger nicht gut bedienen können. »Vor allem zur Versorgung von Inseln oder abgelegenen Küstenregionen gibt es viele Ideen«, sagt Bard. Bisher werden dort teils noch Dieselgeneratoren verwendet, deren Betrieb teuer ist. »In solchen Regionen könnten Meeresenergien schneller wettbewerbsfähig werden.«

Dazu müssen die Anlagen aber zuverlässig laufen. Und potenzielle Investoren müssen auch daran glauben und die Projekte frühzeitig fördern. Entsprechend wichtig sind Umgebungen wie die Bay of Fundy am Ostzipfel Kanadas, wo Entwickler ihre Erfindungen ausgiebig testen können. Es handle sich um einen der anspruchsvollsten Standorte der Welt, erzählt Ralf Starzmann von der Firma Schottel Hydro in Spay am Rhein, der Turbinen für ein neues Tidenströmungskraftwerk in der Bay of Fundy baut. In der Bucht würden bei einer Springtide Strömungen von bis zu sechs Metern pro Sekunde erreicht. »Der Rhein fließt bloß mit rund zwei Metern pro Sekunde«, sagt Starzmann.

Aber der Einsatz unter Extrembedingungen bringt einen konkreten Vorteil: Die Provinz Nova Scotia hat in der Bay of Fundy eigens ein Testzentrum eingerichtet. Ein Seekabel schafft Strom ans Ufer, es gibt Infrastruktur für die Forschung auf dem nahen Festland und eine »generöse Einspeisevergütung« von 35 Eurocent pro Kilowattstunde. Unter diesen Voraussetzungen fanden sich genug Kapitalgeber, die rund acht Millionen Euro für die drei Plattformen der Firma Sustainable Marine Energy aufbrachten.

Die erste soll schon bald ihren Betrieb aufnehmen: ein Trimaran mit sechs Turbinen, jede angetrieben von einem Propeller mit vier Meter Durchmesser. Zusammen liefern sie 420 Kilowatt. Wenn die anderen zwei Plattformen fertig gestellt sind, sollen insgesamt 1,26 Megawatt anliegen – immerhin so viel, wie ein kleines Windrad liefert.

Sensoren auf dem Meeresboden

»Der Vorteil der Gezeitenströmung ist, dass sie absolut planbar ist und damit gut in ein vorhandenes Netz integriert werden kann«, sagt Turbinenentwickler Starzmann. Dazu brauchen die Ingenieure solide Daten über die Bedingungen vor Ort. An jedem potenziellen Standort werden zunächst Sensoren auf dem Meeresboden aufgestellt, die zwei Monate lang die Strömungsgeschwindigkeit messen. Auf dieser Basis lässt sich dann eine Vorhersage entwickeln. »Man kann schon heute ausrechnen, wie viel eine Anlage am ersten Weihnachtstag im Jahr 2045 bringt.«

Das klingt simpel, doch im Detail ist die Technik schwierig zu optimieren. Um die Plattform in der Strömung auszurichten, wird sie wie ein Schiff an Ketten fixiert und dreht sich dank ihrer Gestalt stets in die richtige Position. Dabei gilt es, die perfekte Drehzahl der Rotoren zu finden. »Der mechanische Ingenieur möchte diese hoch halten, um weniger Drehmoment auf der Welle zu haben«, erklärt Starzmann. Der Strömungsingenieur dagegen wolle sie gering haben, damit an den Flügelspitzen keine Dampfblasen entstehen, die das Material zerfressen können. Der beste Kompromiss für einen Rotor mit vier Meter Durchmesser scheint bei knapp 50 Umdrehungen pro Minute zu liegen, haben die Ingenieure ermittelt.

Auch der Umweltschutz ist bei Meeresenergieprojekten ein Thema. In der Vergangenheit gab es hier immer wieder Bedenken von Tierschützern, etwa bei den Unterwasser-Strömungsrädern von SeaGen in Nordirland. Biologen um Carol Sparling von der University of St Andrews gaben hier letztlich Entwarnung, zumindest für die Meerenge von Strangford: Mit Peilsendern ausgestattete Seehunde wichen der Testanlage aus. Ansonsten zeigten sich kaum Änderungen in ihren Bewegungsmustern, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Drei in einem | Die Firma Sinn Power will in schwimmenden Plattformen Solarpanele, Windturbinen und Strom erzeugende Bojen miteinander kombinieren.

Sparling und ihr Team heben jedoch hervor, dass die Studienergebnisse nur für die beiden Rotoren von SeaGen gelten. Bei einem Verbund vieler solcher Anlagen könnten Tiere stärker beeinträchtigt werden. Viele Experten gehen davon aus, dass Tidenströmungskraftwerke wie SeaGen wohl deutlich umweltfreundlicher ausfallen als Gezeitenkraftwerke, deren Sperrwerke oft ganze Buchten füllen und so potenziell die Lebensräume von Meeresbewohnern zerschneiden. Diese und andere Bedenken gibt es etwa an der Rance-Mündung im bretonischen Saint-Malo, wo ein Gezeitenkraftwerk seit mehr als 50 Jahren Strom liefert.

Dass sich einzelne Projekte stark unterscheiden, gilt noch mehr für die zweite marine Energiequelle, die Ingenieure nutzbar machen wollen: die Wellen, deren Auf und Ab man ebenfalls in Strom umwandeln kann. Die Seeschlange Pelamis war hier einer der Pioniere. Wellen knickten ihre einzelnen Segmente gegeneinander, was jedes Mal Pumpen im Inneren in Gang setzte. 2014 ging dem Projekt das Geld aus.

Mittlerweile sollen andere Ideen die raue See nutzbar machen. Vor den schottischen Orkney-Inseln bietet das European Marine Energy Centre (EMEC) Testplätze an, mit vorhandenen Ankerpunkten im Meeresboden und Infrastruktur an Land, um Tests auszuwerten oder Geräte rasch zu reparieren.

Die einzelnen Projekte sind sehr verschieden. Der Schwimmkörper der belgischen Firma Laminaria ist beispielsweise über Seile mit dem Boden verbunden, die je nach Wellengang hin- und hergezogen werden und so Energie zu einem Generator bringen. Das finnische Unternehmen Wello Oy setzt dagegen auf eine unförmige, flache Boje, die den Wellen folgend so schaukelt, dass im Inneren eine senkrecht stehende Welle mit Unwucht rotiert und damit einen Generator antreibt.

Boje mit 300 Kilowatt Leistung

Als viel versprechend gilt das Konzept von Corpower aus Schweden. Es sieht eine 18 Meter große, runde Boje vor, die von Wellen auf- und ab- sowie etwas hin- und herbewegt wird. Im Inneren hat sie eine gezahnte Schiene, ein Getriebe sowie Dämpfer, so dass die lineare Bewegung möglichst gleichmäßig auf den Generator übertragen wird. Nach Firmenangaben ist die Regelungstechnik so ausgefeilt, dass die Energieausbeute dreimal höher ist als bei gewöhnlichen Bojensystemen.

Nach Tests in Schottland will Corpower – finanziert mit privaten und öffentlichen Mitteln – in diesem Jahr eine Boje mit 300 Kilowatt Leistung an der Küste Portugals montieren, später sollen drei weitere Anlagen folgen. 2024 soll die Technologie marktreif sein und sollen zertifizierte Systeme mit Garantie den Kunden angeboten werden, teilt das Unternehmen auf Anfrage mit und gibt sich selbstbewusst: Im Lauf dieses Jahrzehnts werden seine Wellenenergiewandler wettbewerbsfähig mit Wind und Solar sein.

Welche Technik sich durchsetzen wird, lässt sich heute nicht sagen – insofern ist die Branche immer noch am selben Punkt wie vor zehn Jahren. Eine »One size fits all«-Lösung werde es nicht sein, sagt Nils Goseberg, Professor für Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau an der TU Braunschweig. Er glaubt eher an eine Hand voll verschiedener Konzepte, die zur Marktreife gelangen. »Es hängt sehr vom Standort ab, von der Wassertiefe und dem Wellenklima.« So bezeichnen Wissenschaftler den Mix der häufigsten Wellenlängen und -höhen.

Jedes Projekt ist anders

»Man kann nicht einfach die Schublade öffnen und Pläne für die passende Anlage rausholen, sondern sie muss genau auf die Bedingungen abgestimmt werden«, sagt Goseberg. Und selbst wenn ein Entwicklerteam das Wellenklima in einem Versuchskanal gut nachbilde, sei der nächste Schritt ins offene Meer oft zu groß und werfe viele Probleme auf. Wellen, Strömungen- oder ein Untergrund, der eine Verankerung weniger Halt gibt als gedacht: All das könne von den Erwartungen abweichen und in der Praxis Schwierigkeiten bereiten.

Goseberg und seine Kollegen bauen daher derzeit am Forschungszentrum Küste in Hannover einen neuen Wellenkanal. Die Anlage soll ab 2022 bessere Prognosen erlauben, 34 Millionen Euro gibt das Bundeswirtschaftsministerium dafür aus. »Damit können sie ein Gesamtsystem testen und sparen sich Millionen Euro teure Pilotprojekte im Meer.«

Goseberg gibt sich optimistisch, dass die Ozeane auf diesem Weg doch noch einen nennenswerten Beitrag zur Stromversorgung leisten können. »Deutschland ist Exportweltmeister, mit dieser Denke müssen wir auch die Meeresenergien angehen«, sagt er. Bei der Windkraft sei das schließlich auch gelungen, wo hiesige Entwicklungen mittlerweile an der US-Ostküste, in China und Taiwan zu finden seien.

Und vielleicht liegt die Chance der Meeresenergie ja weniger darin, mit den etablierten Erneuerbaren zu konkurrieren, als darin sie zu ergänzen. Diesen Ansatz verfolgt jedenfalls die Firma Sinn Power aus dem bayerischen Gauting. Sie hat ein Modul entwickelt, bei dem das Auf und Ab eines Schwimmkörpers einen Generator rotieren lässt. Das Besondere ist, dass eine Plattform aus mehreren Modulen geplant ist. Sie soll neben Wellenenergie auch Wind- und Sonnenenergie nutzen.

»Wellenenergie hat immer noch hohe Kosten und ist komplex, also zäumen wir das Pferd von hinten auf«, sagt Johannes Stuck von Sinn Power. Eine Versuchsplattform, die die Firma kürzlich auf Kreta zu Wasser gelassen hat, wird zunächst mit Fotovoltaikmodulen versehen, später kommen kleine Windkraftanlagen hinzu und schließlich die Wellenabsorber, die das Team seit Jahren testet und weiterentwickelt.

Die Kombination von bewährter und neuer Technik soll die Hemmschwelle für potenzielle Kunden senken. Stuck sieht die Plattformen dabei nicht nur als Option für die Versorgung von Inseln, sondern auch als Ergänzung für Offshorewindparks. »Diese Flächen sind ohnehin für andere Nutzungen wie Schifffahrt oder Fischfang gesperrt, aber sie sind bereits ans Stromnetz angeschlossen«, argumentiert er. »Es wäre ideal, dort alle Formen von Meeresenergie zu nutzen und somit die Schwankungen von Wind und Sonne auszugleichen.«

Wie wichtig die Energie aus dem Meer ist, um Europa mit klimafreundlichem Strom zu versorgen, hat die EU seit Langem erkannt, zumindest in der Theorie. Sie will die installierte Leistung von Wellen- und Tidenströmungskraftwerken bis 2030 auf ein bis drei Gigawatt erhöhen, bis 2050 sogar auf 60 Gigawatt. Das geht aus einem Entwurf der EU-Strategie für eine bessere Ausnutzung von Offshoreenergie hervor. Der Weg ist jedoch weit: 2019 kamen die europäischen Anlagen für Wellen- und Tidenströmung zusammen auf gerade mal 13 Megawatt. In drei Jahrzehnten müssten sie also 4000-mal mehr Strom ins Netz einspeisen als heute.

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