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Erdbeben in Hamburg: Kleine Schweinehunde

Bisher galt Norddeutschland als frei von schweren Erdbeben. Doch neue Forschungen legen nahe: Einst gab es in Hamburg starke Erschütterungen. Ist das Risiko höher als gedacht?
Hamburg, Blick über Sandtorkai, Hafencity, Speicherstadt und Altstadt.

An den Wänden einer Baugrube im Stadtteil Wandsbek entdeckte der Geologe Alf Grube vom Geologischen Landesamt Hamburg im Jahr 2016 Absonderliches: stark verformte Sandbänder, die aussahen, als seien ganze Bodenschichten umeinander herumgeflossen und in heute sandgefüllte Röhren Richtung Oberfläche geströmt. Andere Schichten bilden Vertiefungen, die mit Sand und zerrissenen Torflagen gefüllt sind. Seine Schlussfolgerungen stellte Grube im Februar 2019 im »International Journal of Earth Sciences« vor. Die seltsamen Strukturen könnten nur von schweren Erdbeben der Magnitude 6 oder höher erzeugt worden sein.

Karten der Erdbebengefahr stellen Deutschland nördlich einer Linie von etwa Münster nach Magdeburg einheitlich unauffällig dar. Doch die Funde von Grube zeugen von Erschütterungen, die ohne Weiteres mit zerstörerischen Beben in seismisch aktiven Regionen mithalten – weit stärker, als man der Region zugetraut hätte, und stark genug, um erhebliche Schäden in der Millionenstadt anzurichten. Das letzte dieser starken Beben fand wahrscheinlich vor gerade einmal 1200 Jahren statt, nach geologischen Maßstäben geradezu gestern.

Andere Fachleute bewerten die Funde ähnlich. »Mir war relativ schnell klar, dass solche Formen nicht durch andere Ursachen entstanden sein können«, sagt auch Klaus Reicherter, Erdbebenforscher an der RWTH Aachen. »Die abnormalen Strukturen entstehen, wenn Porenwasser im Erdreich plötzlich durch heftige Stöße unter Überdruck steht. Das fällt dem Geologen schon auf, das ist wirklich selten und seltsam.«

Schwere Erdbeben treten eigentlich bevorzugt dort auf, wo sich bewegende Erdplatten aneinandergrenzen: an den mittelozeanischen Rücken, in Gebirgen oder – besonders verheerend – da, wo Meeresboden im Erdmantel verschwindet. Norddeutschland liegt fernab solcher Unruhezonen, dort gibt es nur gelegentlich kleinere Erdstöße, wenn Hohlräume im Untergrund einbrechen. »Wenn so eine Karsthöhle zusammenbricht oder Salz ausgelaugt wurde, dann erreicht so ein Kollapsbeben vielleicht Magnitude 4 bis 5«, so Reicherter.

Spuren im Sand

Solche Ereignisse sind jedoch wegen der logarithmischen Magnitudenskala dutzend- bis tausendfach kleiner als die Beben, die Alf Grube nun im Untergrund Hamburgs diagnostizierte. Das starke Erdbeben vor 1200 Jahren war nach den Erkenntnissen von Grube außerdem kein Einzelfall. Insgesamt fünf große Erschütterungen in den letzten etwa 30 000 Jahren liest er aus dem Untergrund von Hamburg heraus. Das Risiko in Hamburg, legt die Studie nahe, ist wohl weit höher als bisher vermutet.

Bodenstrukturen | Ein Aufschluss mit sandigen, tonigen und torfigen Lagen, die teilweise ineinandergeflossen sind. Solche Strukturen entstehen, wenn sich sandige, mit Wasser gesättigte Bodenschichten verflüssigen – oft eine Folge von schweren Erdbeben.

Die mutmaßlichen Starkbeben von Norddeutschland gehören zu den Intraplattenbeben, einer rätselhaften Klasse von Erschütterungen, die sich grundlegend von normalen Erdbeben der Plattengrenzen unterscheidet. Bisher ist nur sehr wenig über diese exotischen Ereignisse bekannt – vor allem, weil sie so selten sind. »Diese Intraplattenstörungen sind kleine Schweinehunde«, erklärt Reicherter. »10 000 Jahre tut sich da gar nichts, und dann kommt wieder so ein Erdbeben dabei raus.«

Während die Bevölkerung in bekannten Bebenregionen in gewissem Maß vorbereitet ist, treffen Erdstöße anderswo Städte und Länder völlig unvorbereitet und sind deswegen oft umso zerstörerischer. Das gilt auch für Hamburg, denn mangels entsprechender Bauvorschriften stehen in der Hansestadt zigtausende verwundbare Gebäude. Besondere Gefahr geht vom Untergrund aus. Die Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern steht zu großen Teilen auf den unverfestigten Sedimenten eiszeitlicher Flusstäler, die durch schwere Erschütterungen ihre Stabilität verlieren – der gleiche Prozess, der die von Grube entdeckten Strukturen erzeugte.

Wie groß die Gefahr wirklich ist, hängt von der zu Grunde liegenden Ursache der Erdbeben ab – erst wenn die Fachleute den Ursprung der Spannungen im Untergrund kennen, lässt sich einschätzen, wie wahrscheinlich solche starken Erdbeben wirklich sind. Klassischerweise entstehen Spannungen in der Erdkruste, wenn sich die Platten horizontal gegeneinander verschieben – in diesem Fall jedoch gebe es eine zweite Möglichkeit, schreibt Grube: das Auf und Ab der Erdkruste während der Eiszeit. In der letzten Vereisungsperiode bedeckte eine gigantische, bis zu vier Kilometer dicke Eiskappe Skandinavien und reichte bis in die Norddeutsche Tiefebene. Die enormen Eismassen dellten die Erde ein. Durch das zusätzliche Gewicht sank die Erdkruste in den plastischen Erdmantel ein und drückte das Gestein zur Seite.

Hamburg ganz unten

Nachdem das Eis vor etwa 15 000 bis 10 000 Jahren schmolz, begann das verdrängte Gestein in die Delle zurückzufließen und hebt seitdem die ganze Region wieder an – bisher um bis zu 300 Meter in der nördlichen Ostsee. »Man muss sich das vorstellen wie eine Luftmatratze. Wenn man aufsteht, geht die verdrängte Luft wieder in die Eindellung zurück«, erklärt Reicherter. Außerhalb des einst vom Eis bedeckten Bereichs passiert genau der umgekehrte Prozess. Auch in Hamburg: Pro Jahr sinkt die Stadt allein durch diesen Effekt um einen halben Millimeter ab. »Das wird von heute an noch etwa 5000 Jahre andauern und könnte natürlich solche Erdbeben hervorrufen.«

Im Raum Hamburg gibt es mehrere Strukturen, an denen sich Gesteinsblöcke verhaken und aneinanderrutschen können, während sich der Boden hebt und senkt. Gigantische »Salzmauern« und ähnliche Strukturen ragen aus großer Tiefe kilometerhoch Richtung Oberfläche, so dass sehr unterschiedliche Gesteinstypen nebeneinanderliegen und sich während des Eindellens gegeneinander verschoben haben können. Nun, so die Hypothese, ruckelt sich das wieder zurecht. Zeugnisse dafür, dass das zurückweichende Eis und die sich dadurch hebende Erdkruste in der Vergangenheit schwere Erdbeben hervorgerufen haben, findet man in Skandinavien.

Ein Beispiel liegt in Zentralschweden, wo am Übergang zwischen Kalt- und Warmzeit mehrere Beben mit mutmaßlichen Magnituden bis Stärke 8 das Land schwer erschütterten. Doch das geschah vor 11 000 Jahren, als sich das Land wesentlich schneller hob; ob die inzwischen viel langsamere Bewegung für Erdbeben reicht, ist umstritten. Einige Fachleute wie zum Beispiel der dänische Geologe Søren Gregersen sehen heutzutage auch in Nordeuropa die normalen, großräumigen Kräfte der Erdkruste als bedeutendsten Faktor.

Auf diese Spannungen, die ihre Ursache im Aneinanderreiben der Erdplatten haben und über tausende Kilometer wirken, gehen die meisten Intraplattenbeben zurück. Eigentlich sind diese Kräfte zu weit verteilt, um Erdbeben auszulösen. Doch lokale Bruchzonen und Gesteinsgrenzen tief im Hinterland können die großräumigen Kräfte verstärkt bündeln und unerwartete Erdbeben auslösen. Das funktioniert selbst dann, wenn solche Strukturen längst inaktiv und verschüttet sind. Im Raum Hamburg gibt es gleich drei uralte Bruchzonen: die Elbe-Störungszone, den Glückstadt-Graben und die Elbe-Linie. Diese sind vor mehr als 200 Millionen Jahren entstanden und seit etwa 100 Millionen Jahren inaktiv, die Elbe-Linie ist sogar noch älter.

Auf der Suche nach dem Übeltäter

Gegen diese häufigste Variante der Intraplattenbeben spricht, dass die Beben in Hamburg anscheinend vergleichsweise häufig auftreten – mindestens dreimal bebte die Erde in den letzten paar tausend Jahren in der Hansestadt. Die klassischen Intraplattenbeben verhalten sich anders, sie springen von Störungszone zu Störungszone, meist über hunderte Kilometer hinweg. Bebenserien in einer einzelnen Region sind nicht ihr Stil.

Grube jedenfalls will sich derzeit nicht festlegen, auf welchen der beiden Mechanismen die Erschütterungen zurückgingen. »Viele Autoren gehen davon aus, dass das die nacheiszeitliche Hebung sei, aber ich kann das so nicht unterschreiben, weil ich in den Strukturen überhaupt keine Unterschiede finde«, sagt er. »Wie man das auseinanderhalten kann, muss man noch klären.« Vielleicht bringen schon bald weitere Funde Licht in die Sache. In anderen Stadtteilen habe er vergleichbare Strukturen aufgespürt, berichtet er, eine weitere Veröffentlichung sei in Vorbereitung.

»Wir haben ja den glücklichen Fall, dass wir hier in Hamburg sehr viele schöne Baugruben haben.« Mit etwas Glück trifft er früher oder später auf weitere geologische Strukturen mit Hinweis auf die Verwerfungen, an der das Erdbeben damals stattfand. Eine solche Entdeckung würde helfen, die Ursache einzugrenzen. Die räumliche Ausrichtung der Verwerfungslinie sagt eine Menge darüber aus, welche Spannungsfelder auf die Störung wirken – ihre Länge gibt Aufschluss darüber, wie stark die Erdbeben höchstens gewesen sein können.

Das wäre nicht nur für die Wissenschaft ausgesprochen nützlich, sondern würde zudem helfen, das Risiko genauer einzugrenzen. »Deshalb ist es wichtig, mehr über die Verhältnisse im Untergrund herauszufinden«, sagt auch Klaus Reicherter. Gebäude und Infrastruktur, die auf der verursachenden Störung stehen, seien besonders gefährdet, falls in naher Zukunft tatsächlich ein sehr starkes Erdbeben die dicht besiedelte Region treffen sollte. »Man muss sich vorbereiten. Das heißt natürlich nicht, dass man Panik macht, sondern dass man Katastrophenpläne vorbereitet und Szenarien durchspielt: Was wäre wenn?«

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