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Neuer Forschungsskandal: Gefälschte Daten erschüttern die Verhaltensbiologie

Der Spinnenforscher Jonathan Pruitt wurde von Kollegen als »aufgehender Stern« beschrieben. Nun steht er im Verdacht, im großen Stil gefälscht zu haben.
Eine Studie zur koloniebildenden Spinne Stegodyphus dumicola wurde bereits zurückgezogen

In der Biologie mehren sich die Hinweise auf einen neuerlichen Datenfälschungsskandal: Betroffen ist diesmal die Verhaltensforschung, konkret die Forschung an Spinnen. Wie die McMaster University im kanadischen Hamilton am 5. Februar bestätigte, untersucht sie derzeit Vorwürfe gegen den Verhaltensökologen Jonathan Pruitt. Der Wissenschaftler soll in mindestens 17 Arbeiten, an denen er als Mitautor mitgewirkt hat, Daten gefälscht haben.

Ende Januar wurden Bedenken über seine Arbeit öffentlich. Seitdem versuchen Wissenschaftler, das genaue Ausmaß der fragwürdigen Daten in Pruitts Studien zu ermitteln. Ihre Ergebnisse leiten sie zur Überprüfung an all jene Fachzeitschriften weiter, in denen die Arbeiten erschienen sind. Laut einer öffentlich einsehbaren Tabelle, die von Daniel Bolnick, einem Evolutionsbiologen an der University of Connecticut in Storrs, geführt wird, wurden sieben Arbeiten entweder bereits zurückgezogen oder sind dabei, zurückgezogen zu werden; fünf weitere »Retractions« wurden von Pruitts Koautoren beantragt. Und ein Ende ist noch nicht in Sicht: Bei zahlreichen weiteren Veröffentlichung fanden sich laut der Liste Hinweise auf Datenanomalien.

Dem Magazin »Science« sagte Pruitt, der sich aktuell auf Feldforschung in Australien und in der Südpazifikregion befinden soll, er habe keine Daten gefälscht oder in irgendeiner Weise manipuliert. Auf mehrere Bitten seitens »Nature«, die Anschuldigungen zu kommentieren, reagierte er bislang nicht.

Pruitt forscht seit Jahren daran, ob und wie sich bei sozial lebenden Spinnen unterschiedliche Persönlichkeiten herausbilden. Solche Untersuchungen liefern wichtige Erkenntnisse zu einer aktuellen wissenschaftlichen Debatte, die sich um die Frage dreht, wie sehr die Umwelt das Verhalten von Tieren beeinflusst.

Viele, die Pruitt nahestehen, sind fassungslos. Noa Pinter-Wollman, eine Verhaltensökologin an der University of California in Los Angeles, die zusammen mit Pruitt 20 Arbeiten verfasst hat, sagt, dass die Geschehnisse der letzten Tage »emotional verheerend« gewesen seien. Pruitt sammelte die Daten für fünf ihrer gemeinsam verfassten Arbeiten. »Es war schwer, das Vertrauen in jemanden zu verlieren, mit dem man so eng zusammenarbeitet und dem man so lange vertraut hat«, sagt sie.

Hinweise auf copy & paste in den Rohdaten

Es begann Mitte Januar 2020 mit einem Beitrag im »American Naturalist«. Er war der erste, der zurückgezogen wurde, nachdem Koautoren unter Berufung auf »Unregelmäßigkeiten in den Rohdaten« seine Löschung beantragt hatten. Es handelte sich um Daten, die Pruitt zur Verfügung gestellt hatte. Sie sollten zeigen, wie lange soziale Spinnen brauchen, um nach einer Störung, wie zum Beispiel einem simulierten Angriff eines Raubtiers, wieder typische Verhaltensweisen anzunehmen.

»Es ist schwer zu glauben, dass diese Daten nicht gefälscht sind«Niels Dingemanse

Nachdem ein weiteres Paper zurückgezogen wurde, diesmal eines aus den »Proceedings of the Royal Society B«, schrieb Kate Laskowski, eine Verhaltensökologin an der University of California in Davis, die beide Studien zusammen mit Pruitt verfasst hatte, einen Blogbeitrag über ihre Rolle bei den Rücknahmen. Sie hatte mehrere Einträge gefunden, bei denen die Daten einer einzelnen Spinne vervielfältigt wurden, um Daten für weitere Tiere zu gewinnen. Als Pruitt die Anomalien nicht überzeugend erklären konnte, forderte sie die Zeitschrift auf, die Arbeiten zurückzuziehen, angeblich mit Pruitts Zustimmung.

»Und plötzlich war der Teufel los«, sagt Niels Dingemanse, ein Verhaltensökologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der bei der Aufdeckung der Datenprobleme geholfen hat.

Mehr als 20 Wissenschaftler – Koautoren, Kollegen und Kenner der Forschungsszene – machten sich daran, die fast 150 Arbeiten, an denen Pruitt mitgearbeitet hat, zu durchforsten und nach Beweisen für manipulierte oder gefälschte Zahlen zu suchen. Sie fanden dabei übereinstimmende Hinweise auf Vervielfältigungen mittels copy and paste. In mindestens einem Fall entdeckten sie in einer veröffentlichten Excel-Datei sogar eine Formel, die per Addition und Subtraktion aus eingefügten Werten neue Datenpunkte erzeugte.

Auch Studien in hochkarätigen Journals betroffen

Viele werten das in privaten und öffentlichen Statements als eindeutige Beweise für Betrug. Dingemanse sagt, er habe sich seine Meinung durch die anrollende »Lawine« zurückgezogener Fachpaper gebildet sowie durch den wachsenden Berg an Unregelmäßigkeiten. »Es ist schwer zu glauben, dass diese Daten nicht gefälscht sind«, sagt er.

Das volle Ausmaß eines Datenbetrugs und seine Auswirkungen auf das Feld sind schwer zu quantifizieren. Pruitt habe »eine Menge wirklich beeindruckender Arbeiten« geschrieben und wurde von vielen als »aufgehender Stern« betrachtet, sagt María Rebolleda-Gómez, Forscherin für mikrobielle Ökologie an der Yale University. Im Jahr 2018 wechselte Pruitt von der University of California in Santa Barbara im Rahmen des renommierten Programms »Canada 150 Research Chairs« an die McMaster University.

Mehrere hochkarätige Studien von ihm sind bereits erschienen, darunter eine in den »Proceedings of the National Academy of Sciences« (PNAS) und eine in »Nature«, die sich mit dem kontrovers diskutierte Phänomen der so genannten Gruppenselektion in der Evolution befasst. Die Daten beider Studien stehen nun in Frage. Die Koautoren des »PNAS«-Papers haben mit Zustimmung von Pruitt um eine Rücknahme gebeten; ein Vertreter von »Nature« sagt, dass die Zeitschrift über die fragwürdigen Daten informiert wurde und diese untersucht. (Das Team von »Nature News«, von dem dieser Artikel stammt, arbeitet unabhängig von der Redaktion der Fachzeitschrift).

Die 17 Studien, die fragwürdige Daten enthalten, wurden mehr als 900-mal zitiert

Die 17 Studien, die fragwürdige Daten von Pruitt enthalten, wurden mehr als 900-mal zitiert. Es wird wohl eine ganze Weile dauern, bis klar ist, welche Aussagen auch von anderen Untersuchungen gestützt werden und wo Wissenschaftler erneut testen müssen. »Meine Vermutung ist, dass die Auswirkungen wahrscheinlich ziemlich groß sein werden«, sagt Laskowski.

Wenig überzeugende Einlassungen

Vereinzelt haben Wissenschaftler im Internet den Skandal als Beweis dafür gewertet, dass das gesamte Gebiet der Tierpersönlichkeitsforschung verdächtig ist. Doch Bolnick wehrt sich dagegen, das Verhalten einer einzelnen Person auf eine ganze Disziplin zu übertragen.

Ein Sprecher der McMaster-Universität bestätigte, dass die Einrichtung Untersuchungen durchführt, wollte aber keine weiteren Kommentare zum Thema Forschungsintegrität abgeben. Die University of California in Santa Barbara, an der Pruitt den größten Teil der fraglichen Arbeit geleistet hat, lehnte es ab, sich zu dem konkreten Fall zu äußern, sagte aber, dass sie »mit jeder anderen Institution, die eine Untersuchung durchführt, zusammenarbeiten würde«.

Trotz ursprünglicher Zusage, Fragen von »Nature« per E-Mail zu beantworten, hat Pruitt auf mehrere Bitten um Kommentare nicht geantwortet. Letzte Woche sagte er gegenüber »Science«, dass die aufgeworfenen Fragen auf Fehler in der Datenverwaltung zurückzuführen seien.

Viele der Forscher, die sich durch seine Daten gekämpft haben, finden diese Erklärung nicht ausreichend. Angesichts der Schwierigkeiten, die die Situation seinen Studierenden und Kooperationspartnern bereitet habe, sei es sogar eine »ausgesprochen unzureichende Antwort« gewesen, sagt Bolnick. Als Chefredakteur des »American Naturalist«, der ersten Zeitschrift, die einen Widerruf herausgegeben hat, ist Bolnick de facto zum Ansprechpartner für die Probleme in Pruitts Papieren geworden. Den Großteil der vergangenen Woche habe er damit verbracht, E-Mails und Anrufe zu diesem Thema zu beantworten.

Laskowski und Pinter-Wollman sehen in der Flut zurückgezogener Studien einen Schlag für die Verhaltensökologie. Aber sie fühlen sich auch bestärkt durch die Entschlossenheit, mit der die Forschergemeinde die wissenschaftlichen Fakten wieder geradezurücken begonnen hat. Jetzt gelte es die richtigen Lehren aus dem Vorfall zu ziehen, etwa wie man Daten am besten öffentlich zugänglich macht und die von Kollegen weitergegeben Daten sorgfältig überprüft. Einer Schätzung zufolge publizierte Pruitt rund zwei Drittel seiner datengetriebenen Forschung in Journals, die keine Anforderungen an die gemeinsame Nutzung von Daten stellen. Mit den richtigen Einsichten könne das Feld auch gestärkt aus der Affäre hervorgehen.

»Trotz allem, was ich durchgemacht habe, werde ich weiterhin Kooperationspartnern vertrauen«, sagt Pinter-Wollman. »Es ist schwer, in einem Vakuum zu wachsen.«

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