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Frühchen: Überleben mit 920 Gramm

Ein gesundes Baby vor der 28. Schwangerschaftswoche? Nie standen die Chancen so gut. Doch eine extrem frühe Geburt kann langfristige Folgen haben. Asthma oder Angstzustände etwa.
Die Behandlung von Frühgeborenen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert, aber die Überlebensraten variieren je nach Alter und Land.

Sie sagten Marcelle Girard, ihr Baby sei tot. Girard war in der 26. Woche ihrer Schwangerschaft. Das war 1992, die Zahnärztin befand sich auf ihrer Hochzeitsreise in der Dominikanischen Republik. Als sie zu bluten begann, nahmen die Ärzte der örtlichen Klinik an, dass das Baby gestorben sei. Doch Girard und ihr Mann spürten einen Tritt. Erst dann untersuchten die Ärzte den Herzschlag des Fötus und stellten fest, dass das Baby am Leben war. Das Paar wurde auf dem Luftweg in die Universitätsklinik Sainte-Justine nach Montreal gebracht. Fünf Stunden später wurde Camille Girard-Bock mit einem Gewicht von nur 920 Gramm geboren.

Derart früh geborene Babys sind empfindlich und unterentwickelt. Ihre Lungen sind besonders betroffen: Ihnen fehlt das so genannte Surfactant, eine Substanz die verhindert, dass die Atemwege beim Ausatmen kollabieren. Zum Glück für Girard und ihre Familie hatte Sainte-Justine vor kurzem damit begonnen, bei Frühgeborenen Surfactant von außen zuzuführen. Diese Behandlung war damals neu. Nach drei Monaten intensiver Pflege nahm Girard ihr Baby mit nach Hause.

Heute ist Camille Girard-Bock 27 Jahre alt und promoviert in Biomedizin an der Universität von Montreal. In Zusammenarbeit mit Forschern von Sainte-Justine beschäftigt sie sich mit den langfristigen Folgen einer extrem frühen Geburt – die definiert ist als eine Geburt vor der 25. bis 28. Woche der Schwangerschaft.

Chronische Gesundheitsprobleme als Erwachsene

Familien gingen oft davon aus, dass sie die größten Probleme nach einer Frühgeburt hinter sich haben, wenn das Kind das Schulalter erreicht hat, sagt Girard-Bock. Denn bis dahin sollten sich alle neurologischen Entwicklungsprobleme gezeigt haben. Aber es zeigen sich auch später noch Probleme, haben ihr Kollegen herausgefunden: junge Erwachsene weisen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf – und es kann sein, dass sie mit der Zeit andere chronische Gesundheitsprobleme bekommen.

Girard-Bock lässt sich von diesen Risiken nicht beunruhigen. »Als Überlebende einer Frühgeburt hast du so vieles überstanden entgegen der statistischen Wahrscheinlichkeit«, sagt sie. »Ich habe so eine Art Gefühl, dass diese Dinge auch an mir vorbeigehen werden«, sagt sie.

Sie ist Teil einer Population, die heute größer ist als je zuvor in der Geschichte: junge Erwachsene, die eine extreme Frühgeburt überlebt haben. Dank dieser Gruppe können Forscher beginnen, die langfristigen Folgen einer so frühen Geburt zu untersuchen. Es gibt einige Kohortenstudien, die Kinder seit ihrer Geburt begleiten und Daten über mögliche Langzeitfolgen sammeln, während andere Studien untersuchen, wie Langzeitfolgen für die Gesundheit reduziert werden können.

Diese Daten können werdenden Eltern von Frühgeborenen helfen, die schwierige Entscheidungen zu treffen, ob sie weiter um das Überleben eines Babys kämpfen sollen. Obwohl viele extrem frühgeborene Kinder gesund aufwachsen, spielen Behinderungen eine große Rolle in dieser Gruppe, insbesondere kognitive Defizite und die zerebrale Kinderlähmung.

Forscher entwickeln zudem neue Interventionen, um die Überlebenschancen extremer Frühchen zu erhöhen und die Gefahr einer Behinderung zu minimieren. Mehrere Medikamente, die Lungen-, Gehirn- und Augenfunktion unterstützen sollen, befinden sich derzeit in klinischen Studien. Ebenso wird untersucht, wie die Eltern unterstützt werden können und wie heutigen Erwachsenen geholfen werden kann, mit den langfristigen Auswirkungen ihrer frühen Geburt umzugehen. So werden beispielsweise spezielle Trainingsprogramme entwickelt, um dem erst kürzlich entdeckten erhöhten Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu begegnen.

»Ich erinnere mich noch, als wir anfingen, Surfactants einzusetzen. Es war wie ein Wunder«Anne Monique Nuyt

»Wir befinden uns in einem Stadium, in dem diese Kohorte älter wird«, sagt die Neonatologin Jeanie Cheong vom Royal Women's Hospital in Melbourne, Australien. Cheong ist Direktorin der Victorian Infant Collaborative Study (VICS), die seit vier Jahrzehnten Überlebende begelitet. »Dies ist eine spannende Zeit für uns, um wirklich etwas für ihre Gesundheit zu tun».

Das späte zwanzigste Jahrhundert hat die Neugeborenenmedizin enorm verändert. Lex Doyle, Kinderarzt und früherer Direktor des VICS, erinnert sich daran wie es war, als er 1975 mit der Betreuung von Frühgeborenen begann: nur sehr wenige überlebten, wenn sie mit einem Gewicht von weniger als 1000 Gramm geboren wurden – ein Geburtsgewicht, das etwa 28 Schwangerschaftswochen entspricht. Die Einführung von Beatmungsgeräten in den 1970er Jahren in Australien habe geholfen, aber auch Lungenverletzungen verursacht, sagt Doyle, heute stellvertretender Forschungsdirektor am Royal Women's Hospital. In den folgenden Jahrzehnten begannen die Ärzte damit, den Müttern Kortikosteroide zu verabreichen, ein Hormon der Nebenniere, das die Lungen des Babys kurz vor der Geburt reifen lassen sollte. Doch der größte Unterschied in der Überlebensrate kam Anfang der 1990er Jahre mit der Behandlung mit Surfactants.

»Ich erinnere mich noch, als wir anfingen, es einzusetzen«, sagt Anne Monique Nuyt, Neonatologin in Sainte-Justine und eine der Kollaboratorinnen von Girard-Bock. »Es war wie ein Wunder.« Das Sterberisiko für Frühgeborene sank auf 60 bis 73 Prozent des vorherigen Risiko – je nachdem, welche Studie man betrachtet.

Heute werden in vielen Krankenhäusern Säuglinge behandelt und oft gerettet, die bereits in der 22. bis 24 Schwangerschaftswoche geboren werden. Die Überlebensraten variieren je nach Standort und Art der Interventionen, die ein Krankenhaus anbieten kann. Im Vereinigten Königreich beispielsweise überleben von Babys, die bei der Geburt noch am Leben sind und versorgt werden, 35 Prozent der mit 22 Wochen geborenen Babys, 38 Prozent mit 23 Wochen und 60 Prozent mit 24 Wochen.
»Frühgeburt sollte als chronische Erkrankung betrachtet werden, die eine langfristige Nachsorge erfordert«Casey Crump

Dabei ist das Risiko von Komplikationen oder anhaltenden Behinderungen umso höher, je früher ein Baby geboren wird. Es gibt eine lange Liste potenzieller Probleme – darunter Asthma, Angstzustände, Autismus-Spektrum-Störung, zerebrale Lähmung, Epilepsie und kognitive Beeinträchtigung – und etwa ein Drittel aller Kinder, die extrem früh geboren werden, entwickeln eine dieser Krankheiten, sagt Mike O'Shea. Der Neonatologe an der medizinischen Fakultät der University of North Carolina in Chapel Hill, arbeitet an einer Studie mit, in der Kinder begleitet werden, die zwischen 2002 und 2004 geboren wurden. In dieser Kohorte sei ein weiteres Drittel mehrfach behindert, sagt er, und der Rest sei gesund.

»Frühgeburt sollte als chronische Erkrankung betrachtet werden, die eine langfristige Nachsorge erfordert«, sagt Casey Crump, Hausarzt und Epidemiologe an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai in New York. Doch in der Regel erhielten diese Babys keine besondere medizinische Betreuung, wenn sie älter würden.

Worauf sollen sich Ärzte einstellen? Für einen Bericht im Journal of the American Medical Association 2019 haben Crump und seine Kollegen Daten aus dem schwedischen Geburtenregister genutzt. Sie werteten die Daten von mehr als 2,5 Millionen Menschen aus, die zwischen 1973 und 1997 geboren wurden, und überprüften ihre gesundheitlichen Daten bis Ende 2015 auf gesundheitliche Probleme.

Von den 5391 Personen, die extrem früh geboren wurden, hatten 78 Prozent mindestens eine Erkrankung, die sich erst in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter zeigte, wie z.B. eine psychiatrische Störung, im Vergleich zu 37 Prozent der Normalgeborenen. Betrachteten die Forscher Faktoren, die eine frühe Mortalität vorhersagen, wie z.B. Herzkrankheiten, so hatten 68 Prozent der extrem früh geborenen Menschen mindestens einen solchen Faktor verglichen mit 18 Prozent der Normalgeborenen.

Allerdings schließen diese Daten auch Menschen ein, die geboren wurden, bevor der Einsatz von Surfactant und Kortikosteroiden weit verbreitet war. Von daher ist es unklar, ob diese Daten die Ergebnisse für heute geborene Babys widerspiegeln. Forscher haben in einer britischen Kohortenstudie über extrem frühzeitige Geburten ähnliche Trends festgestellt. Das Team unter der Leitung des Neonatologen Neil Marlow vom University College London hat herausgefunden, dass 60 Prozent der 19-Jährigen, die extrem früh geboren wurden, in mindestens einem neuropsychologischen Bereich – häufig in der Kognition – beeinträchtigt waren.

Sind Frühgeborene später schulreif?

Solche Behinderungen können sowohl die Ausbildung als auch die Lebensqualität beeinträchtigen. Craig Garfield, Kinderarzt an der Northwestern University Feinberg School of Medicine und dem Lurie Children's Hospital of Chicago, Illinois, haben versucht eine Frage zu beantworten, die viele amerikanische Eltern von Vier- und Fünfjährigen umtreibt: »Ist mein Kind bereit für den Kindergarten oder nicht?« Das amerikanische Schulsystem beginnt bereits vor der ersten Klasse mit dem Kindergarten, den Kinder in der Regel mit fünf Jahren erstmals besuchen und in dem sie bereits Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Von daher entspricht die Frage etwa der Frage deutscher Eltern, ob ihr Kind schulreif ist. (Das, was dem deutschen Kindergarten entspricht, nennt sich dort Pre-School und findet in anderen Einrichtungen statt.)

Um sie zu beantworten, analysierten Garfield und seine Kollegen standardisierte Testergebnisse und Lehrerbewertungen von Kindern, die zwischen 1992 und 2002 in Florida geboren wurden. Von denjenigen, die mit 23 oder 24 Wochen geboren wurden, galten 65 Prozent als bereit, den Kindergarten im Standardalter von 5-6 Jahren zu beginnen, wobei das Alter angepasst wurde, um ihre frühere Geburt zu berücksichtigen. Im Vergleich dazu waren 85,3 Prozent der Kinder, die normal geboren wurden, kindergartenreif.

Trotz ihres schwierigen Starts haben viele Frühgeborene eine positive Lebenseinstellung, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen. In einer Arbeit aus dem Jahr 2006 verglichen Forscher, wie junge Erwachsene ihre Lebensqualität beurteilen und teilten sie in zwei Gruppen auf: Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1000 Gramm sowie Gleichaltrige mit normalem Geburtsgewicht. Sie stellten zu ihrer Überraschung fest, dass die Werte vergleichbar waren. Umgekehrt fand eine Studie aus dem Jahr 2018 heraus, dass Kinder, die nach weniger als 28 Schwangerschaftswochen geboren wurden, über eine signifikant geringere Lebensqualität berichteten. Die Kinder, die keine schweren Behinderungen hatten, bewerteten ihre Lebensqulität im Schnitt um 6 von 100 Punkten schlechter als die Vergleichsgruppe.

Wer eine Frühgeburt überlebt, lebt meist lange und glücklich

Doch als Marlow mehr Zeit mit seinen Teilnehmern und deren Familien verbrachte, machte er sich immer weniger Sorgen über schwere neurologische Probleme. Selbst wenn solche Probleme vorhanden seien, schränkten sie die meisten Kinder und jungen Erwachsenen nicht stark ein. »Sie wollen ein langes, glückliches Leben führen«, sagt er. Die meisten sind auf dem besten Weg dorthin. »Wenn sie mit 22 Wochen überlebt haben, haben die meisten später keine schwere, lebensbegrenzende Behinderung».

Aber es gibt eine Einschränkung: jener Forschungszweig, der extrem früh Geborene bis ins Erwachsenenalter begleitet und mögliche Spätfolgen untersucht, ist noch extrem jung. Von daher kann es sein, dass noch nicht alle Komplikationen bekannt sind. »Ich möchte, dass die Wissenschaft die langfristigen Folgen ebenso mildert wie die kurzfristigen«, sagt Tala Alsadik, eine 16-jährige Gymnasiastin in Jeddah, Saudi-Arabien.

Als Alsadiks Mutter in der 25. Woche schwanger war und die Fruchtblase platzte, händigten die Ärzte der Familie Beerdigungspapiere aus, bevor sie sich bereit erklärten, einen Kaiserschnitt durchzuführen. Als Neugeborener verbrachte Alsadik schließlich drei Monate auf der Neugeborenen-Intensivstation (NICU) mit Nierenversagen, Blutvergiftung und Atemnot.

Die Komplikationen hörten nicht auf, als Mutter und Kund nach Hause gingen. Die Folgen ihrer Frühgeburt sind sichtbar, wenn sie spricht: sie hat eine hohe, etwas atemlose Stimme, weil das damalige Beatmungsgerät ihre Stimmbänder beschädigt hat. Als sie 15 Jahre alt war, kam plötzlich ein gelber Ausfluss aus ihrem Nabel, und sie musste operiert werden. Es stellte sich heraus, dass sich im Nabel noch Materialreste einer Röhre befunden hatten, mit der sie damals ernährt wurde.

»Man hat mir die Chance gegeben, am Leben zu bleiben. Ich muss vorsichtig sein«Camille Girard-Bock

Das ist sicherlich nichts, was man ihren heutigen Ärzten vorwerfen kann. Tatsächlich fragen Ärzte nicht oft, ob ein jugendlicher oder erwachsener Patient zu früh geboren wurde – obwohl es aufschlussreich sein kann für sie.

Charlotte Bolton ist Pneumologin an der Universität von Nottingham, Großbritannien, wo sie sich auf Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) spezialisiert hat. Die Menschen, die in ihre Praxis kommen, sind in der Regel über 40 Jahre alt, oft sind sie aktuelle oder ehemalige Raucher. Aber um das Jahr 2008 herum begann sie zu bemerken, dass ein neuer Patiententyp aufgrund von Atemnot und COPD-ähnlichen Symptomen an sie überwiesen wurde: über 20-jährige Nichtraucher.

Als Bolton sie befragte, stellte sie fest, dass viele von ihnen vor der 32. Schwangershaftswoche geboren worden waren. Um mehr über diese Zusammenhänge zu erfahren, setzte sie sich mit Marlow in Verbindung, der sich mit zunehmendem Alter seiner Langzeit-Studien-Teilnehmer auch Sorgen um deren Lungenfunktion gemacht hatte. Veränderungen der Lungenfunktion sind ein wichtiger Prädiktor (ein Vorhersage-Faktor) für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die weltweit die häufigste Todesursache sind. Ärzte wussten bereits, dass die Lunge nach einer extremen Frühgeburt oft nicht zu ihrer vollen Größe heranwächst. Beatmungsgeräte, hohe Sauerstoffkonzentrationen, Entzündungen und Infektionen können die unreife Lunge weiter schädigen und zu niedriger Lungenfunktion und langfristigen Atemproblemen führen, wie Bolton, Marlow und ihre Kollegen in einer Studie mit 11-Jährigen zeigten.

Frühgeborene haben später Bluthochdruck

Die Langzeit-Studie VICS untermauert die kardiovaskulären Bedenken: Forscher haben eine reduzierte Atem-Fähigkeit bei 8-Jährigen beobachtet, die sich mit zunehmendem Alter verschlechtert , sowie hohen Blutdruck bei jungen Erwachsenen. »Wir haben die Ursache dafür noch nicht gefunden«, sagt Cheong. »Das eröffnet ein ganz neues Forschungsgebiet».

In Sainte-Justine haben die Forscher auch festgestellt, dass junge Erwachsene, die mit 28 Wochen oder weniger geboren wurden, ein fast dreimal höheres Risiko für Bluthochdruck haben. Die Forscher planten, den Blutdruck mittels Medikamenten in den Griff zu bekommen – doch die Mitglieder des Patientenbeirats wollten lieber zunächst eine Änderung des Lebensstils ausprobieren.

Die Wissenschaftler waren pessimistisch, als sie eine Pilotstudie zu einem 14-wöchigen Übungsprogramm begannen. Sie waren überzeugt, dass die kardiovaskulären Risikofaktoren sich nicht verändern ließen. Jedoch deuten nun vorläufige Ergebnisse darauf hin, dass sie falsch lagen: der Zustand der jungen Erwachsenen verbesserte sich mit Bewegung. Girard-Bock sagt, dass die Daten sie motivieren, sich gesund zu ernähren und aktiv zu bleiben. »Man hat mir die Chance gegeben, am Leben zu bleiben«, sagt sie. »Ich muss vorsichtig sein.«

Die ersten Wochen sind kritisch

Für Frühgeborene sind die ersten Lebenswochen und -monate nach wie vor die kritischsten. Aktuell laufen dutzende von klinischen Studien zur Frühgeburt und den damit verbundenen Komplikationen. Einige testen verschiedene Ernährungsformen oder verbessern die Unterstützung der Eltern, andere zielen auf spezifische Probleme ab, die später zu Behinderungen führen wie eine unterentwickelte Lungen, Hirnblutungen und eine veränderte Augenentwicklung.

So gaben beispielsweise Forscher, die die Lungen von Säuglingen schützen wollten, Frühgeborenen in einer klinischen Phase-II-Studie 2016 einen Wachstumsfaktor namens IGF-1 – den der Fötus in den ersten beiden Trimestern der Schwangerschaft üblicherweise von der Mutter erhält. Die Häufigkeit einer chronischen Lungenerkrankung halbierte sich daraufhin, und die Wahrscheinlichkeit einer schweren Hirnblutung bei Säuglingen war in den ersten Monaten etwas geringer.

Eine weitere Sorge ist eine Sehbehinderung. Die Entwicklung der Netzhaut bricht zu früh ab, wenn Frühchen beginnen, Sauerstoff zu atmen. Später setzt sie wieder ein, aber Frühgeborene bilden dann manchmal zu viel von einem Wachstumsfaktor namens VEGF, was zu einer Überwucherung der Blutgefäße im Auge führt – einer Erkrankung, die als Retinopathie bekannt ist. In einer Phase-III-Studie behandelten Forscher 2018 80 Prozent dieser Retinopathie-Fälle erfolgreich mit einem VEGF-blockierenden Medikament namens Ranibizumab. 2019 wurde das Medikament in der Europäischen Union für den Einsatz bei Frühgeborenen zugelassen.

Einige bereits gebräuchliche Medikamente könnten ebenfalls von Nutzen sein: Paracetamol zum Beispiel senkt den Gehalt an Biomolekülen, den so genannten Prostaglandinen, und dies scheint den Verschluss einer wichtigen fetalen Vene in der Lunge zu fördern, wodurch verhindert wird, dass Flüssigkeit in die Lunge gelangt.

Eltern entwickeln Depressionen

Zu den vielversprechendsten Behandlungsprogrammen gehören nach Ansicht einiger Neonatologen jedoch soziale Interventionen zur Unterstützung der Familien nach Verlassen des Krankenhauses. Für die Eltern kann es nervenaufreibend sein, nach monatelanger Abhängigkeit von einem Team von Spezialisten allein zu sein. Sie vertrauen nicht mehr in ihre eigenen Fähigkeiten, was mit Depressionen einhergehen kann ebenso wie mit sozialen Problemen des heranwachsenden Kindes.

Betty Vohr ist Direktorin des Neonatal-Follow-up-Programms am Women & Infants Hospital of Rhode Island. Dort werden die Familien in Privatzimmern untergebracht, anstatt sich ein Gemeinschaftszimmer mit anderen zu teilen. Sobald sie abreisefertig sind, greift das Programm Transition Home Plus , das ihnen bei der Vorbereitung hilft und ihnen Unterstützung anbietet wie regelmäßige telefonische und persönliche Check-Ins in den ersten Tagen zu Hause und eine Hotline, die rund um die Uhr besetzt ist. Für Mütter mit postnatalen Depressionen bietet das Krankenhaus die Betreuung durch Psychologen und spezialisierte Krankenschwestern an.

Die Unterschiede zum klassischen Vorgehen seien signifikant, sagt Vohr. Die Einfamilienzimmer führten zu einer höheren Milchproduktion der Mütter: 30 Prozent mehr nach vier Wochen als bei Familien in Gemeinschaftsräumen. Im Alter von zwei Jahren schnitten Kinder aus den Einfamilienzimmern bei kognitiven und sprachlichen Tests besser ab. Nach Beginn von Transition Home Plus hatten jene Babys niedrigere Gesundheitsversorgungskosten und weniger Krankenhausbesuche. Andere Neugeborenen-Intensivstationen entwickeln ähnliche Programme, sagt Vohr.

Dank dieser Art neuartiger Interventionen und der Langzeitdaten, die weiterhin erhoben und ausgewertet werden, können Ärzte besser als je zuvor vorhersagen, wie es extrem frühgeborenen Kindern ergehen wird und sie entsprechend behandeln. Alsadik will zum Beispiel eine Erfolgsgeschichte erzählen können. Trotz ihres schwierigen Starts ins Leben ist sie in ihrem Studium erfolgreich und plant, Neonatologin zu werden, sagt sie: »Ich möchte auch die langfristigen Auswirkungen von Frühgeburten für andere Menschen mildern.«

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