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Coronavirus-Menschenversuch: »Es könnte sicherer sein, teilzunehmen, als die Infektion abzuwarten«

100 Gesunde sollen das Coronavirus absichtlich bekommen, damit sich schnell ein Impfstoff findet. Das sei radikal, aber ethisch vertretbar, sagt Bioethiker Nir Eyal im Interview.
Noch finden vor allem Laborversuche mit dem Coronavirus statt.

Während hunderte Millionen Menschen soziale Kontakte vermeiden, um sich und ihre Gemeinden vor dem Coronavirus zu schützen, diskutieren Forscher einen dramatischen Forschungsansatz. Er könnte helfen, die Pandemie zu beenden: eine Hand voll gesunder Freiwilliger soll mit dem Virus infiziert werden, um schnell einen Impfstoff zu testen.

Viele Wissenschaftler sehen in einem Impfstoff die einzige Lösung für die Pandemie. Mit einem Impfstoffkandidaten haben in diesem Monat klinische Sicherheitsstudien begonnen, weitere werden bald folgen. Aber eine der größten Hürden wird es sein, zu zeigen, dass ein Impfstoff funktioniert. Normalerweise geschieht dies durch große klinische Phase-III-Studien, in denen Tausende bis Zehntausende von Menschen entweder einen Impfstoff oder ein Placebo erhalten. Forscher verfolgen dann, wer sich im Alltag infiziert.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unseren FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Eine Challenge-Studie an Menschen durchzuführen, ginge viel schneller, argumentieren Wissenschaftler diese Woche in einer Vorabveröffentlichung. Dabei würden etwa 100 gesunde junge Menschen gezielt dem Virus ausgesetzt, um zu prüfen, ob diejenigen, die zuvor den Impfstoff erhielten, sich nicht anstecken.

Im Interview erklärt Nir Eyal, der Direktor des Center for Population-Level Bioethics an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, und Hauptautor des Vorabdrucks, wie die Studie sicher und ethisch einwandfrei durchgeführt werden könnte.

Warum sollten wir Challenge-Studien am Menschen für Coronavirus-Impfstoffe in Betracht ziehen?

Weil sie die Zeit bis zur Genehmigung und potenziellen Nutzung erheblich verkürzen könnten. Was bei der Prüfung von Impfstoffen am längsten dauert, sind die Wirksamkeitstests der Phase III. Die werden an vielen, vielen Menschen durchgeführt, von denen einige den Impfstoff und andere Placebos oder konkurrierende Impfstoffkandidaten erhalten. Die Forscher suchen dann nach Unterschieden zwischen diesen Gruppen bei den Infektionsraten.

Allerdings wird es bei diesem Ausbruch sehr lange dauern, bis interpretierbare Ergebnisse vorliegen. Wenn man stattdessen alle Studienteilnehmer dem Erreger aussetzt, braucht es nicht nur weit weniger Freiwillige, sondern, was noch wichtiger ist, man erhält die Ergebnisse schneller.

Nir Eyal | Der Bioethiker ist Direktor des Center for Population-Level Bioethics an der Rutgers University in New Brunswick.

Gibt es Präzedenzfälle für die Infektion gesunder Menschen mit einem Erreger?

Wir führen ziemlich häufig Studien zu weniger tödlichen Krankheiten durch. Zum Beispiel Influenza, Typhus, Cholera und Malaria. Es gibt einige historische Präzedenzfälle für die Exposition gegenüber sehr tödlichen Viren. Das, was das von uns vorgeschlagene Design von manchen dieser historischen Fälle abgrenzt, ist, dass es unserer Meinung nach einen Weg gibt, solche Studien sicher zu machen.

Wie würde die Studie aussehen?

Man würde erst nach einigen vorläufigen Tests beginnen, um zu klären, dass ein Impfstoffkandidat sicher ist und eine Immunantwort beim Menschen auslöst. Dann versammeln Sie eine Gruppe von Menschen mit geringem Risiko einer Exposition – junge und relativ gesunde Personen – und stellen sicher, dass diese nicht bereits infiziert sind. Sie geben ihnen entweder den Impfstoffkandidaten oder ein Placebo und warten genügend Zeit für eine mögliche Immunantwort ab. Anschließend setzt man sie dem Virus aus.

»Es könnte für einige sicherer sein, an der Studie teilzunehmen, als die wahrscheinliche Infektion abzuwarten«

Sie verfolgen dann alle Teilnehmer sehr genau, um so früh wie möglich Anzeichen einer Infektion zu erkennen. Sie versuchen zu überprüfen, ob es der Gruppe, die den Impfstoff erhalten hat, besser geht als der Gruppe, die das Placebo erhalten hat. Das kann in Bezug auf die Virusmenge, die Zeit bis zum Auftreten von Symptomen oder die Frage, ob sie infiziert sind, geschehen.

Wie hoch ist das Risiko für die Teilnehmer?

Das Schadensrisiko kann sehr deutlich reduziert werden, wenn man Menschen auswählt, die relativ jung sind – wir planen mit 20- bis 45-Jährigen – und sonst gesund. Sie würden zudem Personen auswählen, die Covid-19 wahrscheinlich bereits ausgesetzt sind. Leider wird diese Beschreibung auf viele von uns zutreffen, da wir in Gebieten mit hoher Übertragungsrate leben.

Außerdem würden Sie die Probanden schützen, indem Sie sie täglich oder häufiger auf Infektionen testen und ihnen unmittelbar nach dem Erkennen eine hervorragende Behandlung zukommen lassen. Das ist nicht trivial. Ich habe Ärzte in der Intensivmedizin beraten, die sich auf das Coronavirus vorbereiten. Und wir erwarten – basierend auf den Erfahrungen in Italien und anderen Ländern –, dass es einen akuten Mangel an Ressourcen für die Intensivpflege geben wird. Bis sich Impfstoffkandidaten testen lassen, könnte es einige Behandlungen geben, die sich als wirksam erweisen. Und sicherlich sollte den mutigen Freiwilligen, die wir rekrutieren, ein leichter Zugang zugesichert werden.

Die dramatisch klingende Exposition gesunder Freiwilliger gegenüber dem Virus birgt daher ein geringeres Nettorisiko, als Sie vielleicht denken. Es könnte sogar merkwürdigerweise für einige sicherer sein, an der Studie teilzunehmen, als die wahrscheinliche Infektion abzuwarten und sich auf das allgemeine Gesundheitssystem zu verlassen.

»Menschen tun viele wichtige Dinge aus Altruismus«

Ist das ethisch vertretbar?

Es mag den Anschein erwecken, als ob jeder, der sich freiwillig daran beteiligt, nicht in der Lage ist, rationale Entscheidungen zu treffen. Allerdings tun Menschen viele wichtige Dinge aus Altruismus. Und, wie ich schon sagte, die Studie birgt zwar Risiken, doch sie beseitigt auch welche. Und die Nettorisiken sind zwar unklar, aber nicht eindeutig extrem hoch. Es ist also tatsächlich potenziell rational, an einer solchen Studie teilzunehmen – sogar aus egoistischer Sicht.

Wir lassen die Menschen immer wieder freiwillig riskante Dinge tun. Beispielsweise in dieser Zeit in medizinischen Notfalldiensten arbeiten. Das erhöht ihr Risiko erheblich, sich zu infizieren. Aber es ist zugleich sehr wichtig. Bei klinischen Studien im Allgemeinen konzentrieren wir uns nicht nur darauf, die Risiken für die Teilnehmer zu verringern, sondern wollen auch ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den zusätzlichen Risiken, die sie eingehen, und der Bedeutung für die Gemeinschaft erreichen. In diesem Fall könnten Impfstoffe der einzige Weg sein, der unsere Gesellschaft aus dem Dilemma aus wirtschaftlicher Stagnation einerseits und weit verbreiteter Sterblichkeit andererseits herausführt.

Sollten die Teilnehmer bezahlt werden?

Ich bin zufällig ein Bioethiker, der keine großen Einwände hat, Studienteilnehmer durch finanzielle Anreize anzuziehen. Ich denke allerdings, dass es in dieser Studie wichtig ist, ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen zu gewährleisten, und ich würde den Forschern raten, keine Freiwilligen durch hohe Zahlungen zu gewinnen. Das hätte den Vorteil, dass die Studie nicht die Armen ausnutzt.

Befürchten Sie, dass Länder mit autoritären Regierungen solche Studien an gefährdeten Gruppen wie Gefangenen oder Angehörigen verfolgter Minderheiten durchführen könnten?

Wir würden nur empfehlen, die Studien auf ethische Weise durchzuführen, und zwar mit einer informierten Einwilligung. Impfstoffhersteller wollen ihr Produkt in andere Länder verkaufen. Sie wollen ihre wissenschaftlichen Artikel in angesehenen Magazinen veröffentlichen, und es gäbe viele Hindernisse, wenn ihre Studie nicht den allgemein akzeptierten Standards entspricht.

Die Geldgeber der US-Regierung haben vor einigen Jahren eine Challenge-Studie für einen Impfstoff gegen das Zikavirus erwogen, sich aber dagegen entschieden. Glauben Sie, dass die Geldgeber mit dem Coronavirus zu einem anderen Schluss kommen werden?

Dieser Fall unterscheidet sich deutlich von dem des Zika-Impfstoffs. In der betreffenden Studie war die Entscheidung dagegen zum Teil deshalb getroffen worden, weil es Risiken für Nichtteilnehmer gab – in erster Linie für die Sexualpartner der Teilnehmer und für die Föten, die sie möglicherweise in sich tragen. Weil wir die Studienteilnehmer für einen begrenzten Zeitraum isolieren, gibt es kein Risiko für Nichtteilnehmer. Glaube ich, dass die Länder mit an Bord kommen werden? Nach den Reaktionen zu urteilen, die wir seit der Veröffentlichung des Vorabdrucks von verschiedenen Interessengruppen erhalten haben, glaube ich, dass viele dies tun werden.

Dieses Interview ist im Original unter dem Titel »Should scientists infect healthy people with the coronavirus to test vaccines?« in »Nature« erschienen. Es wurde aus Gründen der Länge und Klarheit bearbeitet und für die deutsche Fassung angepasst.

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