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Ekel: Wenn Abscheu Luxus ist

Ekel soll uns vor Krankheitserregern schützen. Doch diese »verhaltensbasierte Immunreaktion« hat ihre Lücken - auch weil sie manchmal einfach zu teuer wird.
Verschimmelte Dose mit Tomatenmark in einem ansonsten sauberen Kühlschrank.

Geld, Gold und Geschmeide oder Gesundheit und Glück? Luxus liegt immer im Auge des Betrachters. Wenn es um Pathogene und Parasiten geht, gehört sogar Ekel dazu, weil ihn sich nicht alle leisten können. So schlagkräftig unser Immunsystem auch ist, muss es doch vor manchen Erregern kapitulieren. Damit es gar nicht erst so weit kommt, warnen uns tief verankerte Verhaltensweisen vor Krankheitsherden. Der Ekel ist dafür essenziell und wurde nun erstmals in seiner Funktion als Infektbremse bestätigt. Diese Emotion hat aber auch Risiken und Nebenwirkungen, die uns bei der jetzt herrschenden Pandemie teuer zu stehen kommen können – und im Umgang mit unseren Liebsten.

Das Leben in einer hyperhygienischen Welt mit sterilen Lebensmitteln und sanitären Anlagen ist eigentlich eine Anomalie. Erreger prägten die längste Zeit die Geschicke der Menschheit und tun dies noch heute in weiten Teilen der Welt – selbst ohne Pandemie. So stark war der Druck durch Pathogene und Parasiten, dass wir im Lauf der Evolution eng verzahnte Abwehrmechanismen entwickelt haben. Sie sollen vor dem Kontakt mit Erregern greifen, um Infektionen zu verhindern. In ihrer Gesamtheit machen sie das »behavioral immune system« aus, frei übersetzt das »verhaltensbasierte Immunsystem«.

»Unsere Sinne liefern die Informationen«, sagt der Psychologe Josh Tybur von der Freien Universität Amsterdam. »So sollen Risiken durch Pathogene identifiziert und dann Verhaltensweisen ausgelöst werden, die ebendiese Risiken neutralisieren.« Ob wir nun Fauliges schmecken, Fäkalien riechen, eitrige Wunden sehen oder hören, wie sich jemand erbricht: Eine starke Ekelreaktion, die uns fast reflexhaft zurückweichen lässt, scheint hier vorprogrammiert. Doch ein Automatismus ist das nicht: Wir kommen lediglich mit der Anlage zum Ekel auf die Welt und lernen erst als Kinder vom Umfeld, was wir nun genau widerlich finden sollen.

Die Ekel-Klassiker

So bleibt der Ekel in einer Umwelt mit veränderlichen Infektionsrisiken anpassungsfähig und zeigt oft eine höchst individuelle Prägung. Aber eben nicht nur: Die weltweit wichtigsten Ekel-Trigger kreisen um die Klassiker der Kontamination wie Körperausscheidungen, Krankheitssymptome und Kadaver sowie Ungeziefer und verdorbene Nahrung. Unter der Leitung von Tara Cepon Robins, die mittlerweile an der University of Colorado arbeitet, wollte ein Team die lang gehegte Vermutung überprüfen, dass Ekel tatsächlich vor Infektionen schützen kann – und welche Rolle die Umwelt dabei spielt.

Dafür reisten die Forscher und Forscherinnen gewissermaßen zurück in der Zeit. Die indigenen Shuar leben in der Amazonasregion Ecuadors. Als Selbstversorger halten sie Tiere und betreiben Ackerbau in kleinem Maßstab, jagen und fischen. Sie leben meist in Hütten mit offenem Boden, kommen mit den Fäkalien von Mensch und Tier in Kontakt sowie mit rohem Fleisch und holen ihr Wasser aus dem Fluss. Ihre Umwelt ist hochpathogen mit mikrobiellen Erregern und Makroparasiten wie Darmwürmern. Die Lebensweise der Shuar ähnelt damit vermutlich der jener frühen Menschen, bei denen sich das verhaltensbasierte Immunsystem erstmals entwickelt hat.

»Die Kosten der Ekelreaktion dürfen den Nutzen nicht übersteigen«Josh Tybur

Insgesamt rekrutierte das Team 75 Kinder und Erwachsene für die Studie. Sie stammten aus drei getrennten Populationen, die sich in einem Punkt stark unterscheiden. Zwei der Gemeinschaften leben noch sehr traditionell und fast völlig isoliert. Die dritte Gemeinschaft aber hat auch Zugang zum Markt. Sie verkauft also Produkte, erwirbt Konsumgüter und lebt in befestigten Unterkünften mit einem Mindestmaß an Hygiene und Zugang zu sauberem Wasser. Sie alle wurden gleichermaßen nach ihrem Ekelempfinden bei verschiedenen Szenarien befragt, etwa Würmer oder Kakerlaken im Essen oder Fäkalien am nackten Fuß.

Erwartungsgemäß war die Ekelneigung individuell unterschiedlich. Und ebenso erwartungsgemäß hing davon der Schutz vor Erregern ab. Das zeigte ein Abgleich mit Entzündungsmarkern im Blut, die auf virale oder bakterielle Infektionen hindeuten: Die Probanden mit der höchsten Ekelneigung hatten die niedrigsten Entzündungswerte. Ein Erfolgsrezept also. Allerdings war es ungleich verteilt: Nur die Gemeinschaft mit Marktzugang verzeichnete hohe Ekelneigungen. Warum schraubten nicht auch die isoliert lebenden Shuar ihr verhaltensbasiertes Immunsystem bis zum Anschlag hoch?

Ekel muss man sich leisten können

Weil sie sich das schlichtweg nicht leisten können. »Diese Abwehrmaßnahmen werden gegengerechnet, weil die Kosten der Ekelreaktion den Nutzen nicht übersteigen dürfen«, sagt Tybur. »Das bedeutet, dass die Vermeidung von Pathogenen keine anderen elementaren Ziele wie die Fortpflanzung, die Aufzucht von Kindern oder die Nahrungsbeschaffung gefährden darf.« Und die traditionell lebenden Shuar haben oft keine Alternative zu verunreinigtem Essen und Wasser oder zum Kontakt mit Fäkalien. Das gehört zu den Nebenwirkungen von Ekel: Jede Abwehrreaktion ist teuer, und der Widerwille wird in einer hochpathogenen Umwelt zum unerreichbaren Luxusgut.

Das ist anders bei Menschen in industrialisierten Ländern: Sie können sich auch extreme Abwehrreaktionen leisten und hätten wegen der nun herrschenden Pandemie durch das Coronavirus Sars-CoV-2 auch allen Grund dazu. Doch während die umweltbedingten Kosten der Emotion kein Problem sind, ist der Nutzen des Ekels nun fraglich.

Denn unsere Abscheu hat einen toten Winkel: »Der Ekel hilft hier nicht«, so Tybur. »Solche Atemwegserreger, die unter anderem über Aerosole übertragen werden, produzieren keine Signale wie Erbrochenes oder offene Wunden, die wir mit unserer evolutionären Ausstattung als Infektionsrisiko identifizieren können.« Selbst schwer infizierte Menschen zeigen oft erst nach Tagen Symptome, und unser verhaltensbasiertes Frühwarnsystem bleibt der Gefahr gegenüber blind.

Wo der Ekel versagt, müssen wir uns also selbst geeignete Verhaltensregeln ausdenken, um dem Erreger aus dem Weg zu gehen und eine Art virale Flugverbotszone um uns herum zu schaffen, indem wir Abstand halten, Kontakte vermeiden und Masken tragen. Das hilft, wie die sinkenden Infektionszahlen zeigen, wenn die Vorschriften strikt eingehalten werden. Aber die Kosten sind enorm – ohne zuverlässige Hinweise auf einen Infekt können wir potenziell ansteckende Mitmenschen nicht sicher identifizieren und müssten alle Menschen unter infektiösen Generalverdacht stellen.

Freunde ekeln uns weniger

Doch ein solches Verhalten würde wie eine biologische Ekelreaktion unerträglich hohe Kosten verursachen. Anders als bei den Shuar geht es dann nicht um Funktionen des biologischen Überlebens, die gefährdet sind, dafür aber um unser Sozialgefüge. Und deswegen ist eine bestimmte Gruppe von solchen Vorsichtsmaßnahmen gemeinhin ausgenommen, fanden Tybur und sein Team in einer Studie heraus.

»In jedem Händedruck steckt soziale Information«, sagt Tybur. »Verweigere ich ihn, drücke ich einen Mangel an Wertschätzung oder den Verdacht auf eine Infektion aus. Bei sozialen Bindungen, etwa romantischen Beziehungen oder im engen Freundeskreis, hören solche Kontaktrituale deshalb nie auf. Wir kontrollieren sehr stark, ob und wo wir Ekel ausdrücken. Wenn uns jemand nahesteht, nehmen wir ein gewisses Pathogenrisiko auf uns.«

Dieses Verhalten scheint ebenfalls tief verankert zu sein und erklärt, warum Menschen selbst in pandemischen Zeiten nur schwer auf Distanz zur Familie, zu Freunden und anderen sozial wichtigen Personen gehen können. Der entspannte Umgang im nahen Umfeld hat jedoch Folgen: Während der Grippe-Pandemie im Jahr 2009 beispielsweise gab es Hinweise, dass sich ein solcher Infekt in sozialen Netzwerken viel schneller als in der breiten Bevölkerung ausbreitet. Unser Ekel kann lediglich bei bestimmten Erregern und nur dann helfen, wenn seine biologischen und sozialen Kosten den Nutzen nicht übersteigen. Für einen umfassenden Infektionsschutz auch während einer Pandemie müssen wir diese Zusammenhänge noch besser verstehen. Dann können wir mit kühlem Kopf nachhelfen, wo die Emotion versagt.

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