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Shanidar-Höhle: Ein neuer Toter auf dem »Friedhof der Neandertaler«

Bestatteten die Neandertaler ihre Toten? Das legten alte Funde aus den 1960er Jahren nahe. Nun haben Forscher erneut nachgeschaut und ein erstaunliches Skelett entdeckt.
Eingang zur Shanidar-Höhle

Wenige Ausgrabungsstätten erzählen so eindrücklich aus dem Leben der Neandertaler wie die Shanidar-Höhle im Norden des Iraks. Sie berichtet von Zusammenhalt in der Gemeinschaft, von gewalttätigen Konflikten und einer ganz besonderen Art der Fürsorge: Die Besucher der Höhle scheinen hier gezielt ihre Toten niedergelegt zu haben.

Dafür sprechen zahlreiche Indizien, die der US-amerikanische Archäologe Ralph Solecki mit seinem Team in den 1950er Jahren hier sammelte. Insgesamt zehn Neandertalerskelette entdeckte er bei seinen Ausgrabungen, von denen vier herausstachen. Denn während zwischen den übrigen sechs meterweise Sediment – und damit Jahrtausende – liegen, waren diese vier mehr oder weniger zur selben Zeit am selben Ort niedergelegt worden. Eines zeigt Spuren einer Verletzung, die darauf hindeuten, dass hier ein Neandertaler von einem anderen mit einem spitzen Werkzeug angegriffen wurde. Ein anderes Skelett gehörte einem alten Mann, der wohl nur durch die Hilfe seiner Gruppe bis ins hohe Alter am Leben blieb.

Ausgrabungen im Jahr 1960 | Mitarbeiter von Soleckis Kampagne tragen eine Blockbergung aus der Höhle. Sie enthielt die Überreste eines vermeintlich mit Blumen bestatteten Neandertalers und, wie sich erst im Nachhinein herausstellte, die Skelettreste dreier weiterer Individuen.

Neandertaler, die vor über 50 000 Jahren ihre hinfälligen Angehörigen pflegten? Die ihre Toten nicht einfach liegen ließen? Und sie gar mit Blumen bestreuten, wie zahlreiche Blütenpollen nahelegten? Mit seiner Interpretation stellte der Forscher das Bild seiner Zeitgenossen vom Neandertaler kurzerhand auf den Kopf. Aus dem tumben Haudrauf war ein echter Angehöriger der menschlichen Gattung geworden, ein urtümlicher zwar, aber dennoch einer, in dem wir uns wiedererkennen können.

Dieses neue Bild blieb, auch wenn einige von Soleckis Schlussfolgerungen inzwischen angezweifelt werden. Die Blütenpollen, die er auf den Überresten des Skeletts Shanidar 4 fand, kamen mit großer Wahrscheinlichkeit erst später dorthin, vielleicht hafteten sie an der Kleidung der Ausgräber. Überhaupt genügen die Methoden, mit denen sich Soleckis Team über 14 Meter tief in den Untergrund vorarbeitete, längst nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Ein aus dem Höhlensediment herausgeschnittener Block wurde auf dem Dach eines Taxis nach Bagdad gefahren und so sehr durchgerüttelt, dass sich die genaue Lage der vier Skelette darin heute nicht mehr rekonstruieren lässt. Doch die Chance, am Ort seines größten Erfolgs weiterzugraben, bekam Solecki nicht. Im März 2019 starb er schließlich im hohen Alter von 101 Jahren.

Rückkehr an den »Neandertaler-Friedhof«

Die Fachwelt versetzte dies in die unglückliche Lage, dass sich seit Jahrzehnten alle Diskussionen um die vermeintlichen Neandertaler-Bestattungen aus Shanidar an Forschungsergebnissen entlanghangeln mussten, die fast selbst schon aus der archäologischen Steinzeit stammten. Doch die Ausgrabungsstelle blieb ein unerreichbarer Ort, was weitere Studien anging. Im Norden des Iraks gelegen, war sie unter anderem durch die beiden Golfkriege kaum zugänglich.

Erst 2011 leierte die Antikenbehörde des inzwischen unter kurdischer Verwaltung stehenden Gebiets neuerliche Ausgrabungen an. 2014 kehrten Archäologen um Graeme Barker vom McDonald Institute of Archaeology der University of Cambridge in die Shanidar-Höhle zurück – nur um unverrichteter Dinge wieder abzureisen: Nach den ersten beiden Grabungstagen hatte sich der »Islamische Staat« dem Gebiet so weit genähert, dass die Wissenschaftler um ihre Sicherheit fürchteten.

2015 wagten sie den nächsten Versuch und machten im Jahr darauf einen Fund, der zeigt, dass die Shanidar-Höhle noch längst nicht alle Geheimnisse preisgegeben hat. Wie Barker und Kollegen in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins »Antiquity« berichten, fanden sie just im Umfeld der vier Individuen, die mutmaßlich von ihren Angehörigen bestattet wurden, ein weiteres Skelett. Es ist der erste Neandertalerfund seit 25 Jahren, bei dem die Knochen im anatomischen Verbund erhalten sind. Vor allem aber ist es der erste seit mehr als 60 Jahren, der die Debatte um die Begräbnispraktiken der Neandertaler mit neuem Leben erfüllt.

Der stark zerstückelte Kopf von Shanidar Z | Ob es sich bei dem Neandertaler um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat, wissen die Forscher noch nicht. Glücklicherweise ist ein besonders harter Schädelknochen erhalten. Er könnte Material für DNA-Tests liefern.

Es dauerte fast drei weitere Jahre, bis sie den Fund so weit frei gegraben hatten, dass sie ihn dem Boden entnehmen konnten. »Shanidar Z« ist durch Jahrzehntausende im Boden und das Gewicht von gut sieben Meter Sediment in viele Bruchstücke zerscherbt und flach gedrückt. Ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, wissen die Wissenschaftler noch nicht. Abgenutzte Zähne deuten auf ein mittleres oder fortgeschrittenes Alter. Und laut naturwissenschaftlicher Datierung mit Hilfe optisch stimulierter Lumineszenz ist das Skelett rund 70 000 Jahre alt – deutlich älter, als Solecki seine Funde einstufte, der jedoch seinerzeit an die Grenzen der Radiokarbonmethode gekommen war. Die unteren Extremitäten von Shanidar Z fehlen, sofern sie nicht unter das Material gemischt wurden, das einst auf dem Taxidach mit den irakischen Straßen Bekanntschaft machte. Die Beine von Shanidar 6 könnten in Wirklichkeit dem neu entdeckten Individuum gehören.

Erneut finden sich Hinweise auf eine Bestattung

Die Frage aller Fragen jedoch war auch für Barker und Kollegen: Finden sich an Shanidar Z ebenfalls Hinweise auf eine planvolle Bestattung? Das Team bot alles an Methoden auf, was zu einer modernen Ausgrabung gehört. Intensiv studierten sie die Sedimentablagerungen unter und über dem Skelett. Und blieben am Ende tendenziell bei der Schlussfolgerung Soleckis. Der oder die Tote lag demnach in einer von Fließwasser geschaffenen Rinne, die nach Meinung des Wissenschaftlerteams durch menschliche Aktivität vertieft worden war. Dafür spreche die Art, wie das Sediment unter dem Körper verdichtet ist. Nach der mutmaßlichen Bestattung füllte sich die Rinne mehr oder weniger zügig mit neuem Sand, der sich von den andernorts üblichen Einschwemmungen unterscheidet. Wurde der Körper gezielt mit Sand zugedeckt? Dass die Knochen aller »Bestatteten« in anatomisch korrekter Lage aufgefunden wurden, spricht ebenfalls für eine schnelle Beerdigung. Andernfalls hätten sich vermutlich Aasfresser über sie hergemacht.

Der Oberkörper von Shanidar Z | Dem Maßstab genau gegenüberliegend auf der anderen Seite des Skeletts ragt das merkwürdige Steinwerkzeug hervor, das die Wissenschaftler fanden.

Auch die Körperhaltung von Shanidar Z können sie rekonstruieren. Demnach lag er oder sie auf dem Rücken, den linken Arm so stark angewinkelt, dass die zur Faust geballte Hand unter der linken Gesichtshälfte zu liegen kam. Der Kopf lehnte ursprünglich wohl seitlich an einem großen, dreieckigen Stein. Dessen auffällige Form könnte den Neandertalern als Markierung für ihren Bestattungsplatz gedient haben, spekulieren die Forscher.

Warum steckte ein Stein in der Brust von Shanidar Z?

Die alternative Interpretation, dass der Brocken aus der Höhlendecke stammte und das Individuum erschlug, schließen sie aus. Zwar scheinen einige der anderen Individuen, die Solecki im Bereich der Höhle fand, tatsächlich durch solche Gesteinsabbrüche umgekommen zu sein, doch für die vier – oder jetzt fünf – »Bestatteten« gilt dies nicht. In ihrem Umfeld finden sich keine entsprechenden Steine mit Ausnahme des dreiecksförmigen, der aber sicher nicht alle gleichzeitig erschlagen haben kann.

Rekonstruierte Körperhaltung | Der oder die Tote hatte die linke, zur Faust geballte Hand unter dem Gesicht liegen, den rechten Arm auf dem Bauch, die Hand ebenfalls zusammengekrümmt. Grau markiert ist der auffällige Stein, auf den sich der Kopf wohl ursprünglich stützte.

Ein bemerkenswerter Umstand lädt allerdings zu Spekulationen ein. Unterhalb der ersten linken Rippe von Shanidar Z steckte ein abgebrochener rötlicher Gesteinsabschlag, wie er den Neandertalern als Werkzeug diente, sich jedoch praktisch nirgends sonst in der Höhle findet. Noch verzichten die Forscher auf sämtliche Mutmaßungen über seine Bedeutung. Rein theoretisch könnte er durch Zufall an Ort und Stelle gelangt sein. Oder aber er spielte im Zusammenhang mit einer wie auch immer gearteten Bestattungspraxis eine Rolle.

60 Jahre nach Soleckis Grabungen haben die Entdeckungen von Barker und Kollegen nicht mehr das Zeug zu einer Revolution in der Fachwelt. Immerhin fanden sich inzwischen Hinweise auf Höhlenmalereien, auf Schmuck und sogar ein merkwürdiges Bauwerk aus Neandertalerhand. Da wundert es nicht, dass unsere Schwesterart auch ihre toten Angehörigen mit einer gewissen Sorgfalt behandelt zu haben scheint. Noch immer aber nagt auch der Zweifel an den Fachleuten: Der erste Beweis, der sich nicht nur auf doppeldeutige Indizien stützt, steht weiterhin aus. Vielleicht steckt er ja noch tiefer im Sediment von Shanidar. Von der gesamten Höhle haben die Wissenschaftler bislang nur einen winzigen Bruchteil ausgegraben.

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