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Sprachgeschichte: Ein neuer Stammbaum der Gebärdensprachen

Wie die Lautsprachen Deutsch und Englisch sind auch viele Gebärdensprachen miteinander verwandt, aber ihre gemeinsame Geschichte liegt weitgehend im Dunkeln. Eine statistische Analyse wirft neues Licht auf die europäische Sprachfamilie.
Zwei Hände, die das Wort "Dolmetscher" gebärden
Die Gebärde für »Dolmetscher« beginnt mit dieser Handstellung. Sie sieht in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) und in der American Sign Language (ASL) ähnlich aus.

Über die Evolution der Gebärdensprachen ist wenig bekannt, mangels historischer Dokumente: Für keine Gebärdensprache gab und gibt es eine gebräuchliche Schriftform. Wer ihre Entstehungsgeschichte nachverfolgen will, muss deshalb nach Ähnlichkeiten zwischen den heutigen Gebärdensprachen suchen. Gebärden sind allerdings ungleich schwieriger zu vergleichen als das gesprochene Wort. Eine internationale Forschungsgruppe aus den USA, Frankreich und Finnland hat dafür nun eine computergestützte Methode entwickelt und so die Verwandtschaftsverhältnisse von 19 verbreiteten Gebärdensprachen, darunter auch die Deutsche Gebärdensprache, untersucht.

Die Linguistin Natasha Abner von der University of Michigan und ihr Team beschränkten sich auf den Vergleich von Wörtern: Sie sammelten in Video-Wörterbüchern das Kernvokabular der 19 Gebärdensprachen, zum Beispiel Gebärden für »Mann« und »Frau«, »alt« und »neu«, »leben« und »spielen«. Jede Gebärde bekam einen Code, der ihre entscheidenden Merkmale beinhaltete: die Form der Hand, deren Position, etwaige Bewegungen und ob eine oder beide Hände beteiligt waren. Körperhaltung, Mimik und Mundbewegungen tragen zwar ebenfalls zur Bedeutung einer Gebärde bei; sie wurden aber nicht mitberücksichtigt, ebenso wenig wie bildhafte Gebärden. Denn diese entstehen nicht zufällig, und so kommen ähnliche bildhafte Gebärden auch in Sprachen vor, die nicht miteinander verwandt sind, beispielsweise Wörter für Pronomen wie »ich« und »du«, deren Gebärden darin bestehen, mit dem Zeigefinger auf sich oder das Gegenüber zu zeigen.

Anhand der Ähnlichkeiten zwischen den Gebärden berechnete die Forschungsgruppe die Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen. Wie sie in »Science« berichtet, ließen sich die 19 Gebärdensprachen zwei unabhängigen Familien zuordnen – einer europäischen und einer ostasiatischen. Hinweise auf längere Kontakte zwischen diesen gab es nicht: Sie hatten sich offenbar weitgehend unbeeinflusst voneinander entwickelt, so wie es Geografie und Geschichte nahelegen. Die ostasiatische Familie teilte sich in zwei Zweige auf, mit der chinesischen und der Hongkonger Gebärdensprache auf der einen Seite und der japanischen und taiwanischen auf der anderen.

Die statistisch errechneten Verwandtschaftsverhältnisse unter den 15 europäischen Gebärdensprachen passten ebenfalls zu den historischen Fakten. Die Deutsche Gebärdensprache ähnelte am meisten der Österreichischen und der Tschechischen – was mit den geopolitischen Verhältnissen zu Zeiten von Preußen und Österreich-Ungarn zusammenhängt, so deuten es die Forschenden. Ein weiteres historisches Relikt ist die Verwandtschaft der amerikanischen mit der französischen: An der ersten US-Schule für Gehörlose unterrichtete ein Gebärdensprachlehrer aus Paris. Dort war im 18. Jahrhundert die erste dokumentierte Schule für Gehörlose entstanden, wovon der starke Einfluss der französischen Gebärdensprache auf den gesamten westeuropäischen Zweig zeuge. Dass auch die britische und neuseeländische Gebärdensprache nicht nur miteinander, sondern ebenso mit anderen europäischen Sprachen verwandt sind, widerspreche jedoch einer gängigen Auffassung. Ähnlichkeiten müssen allerdings nicht in einer gemeinsamen Abstammung wurzeln, sie können auch auf spätere Kontakte zurückgehen – das kann die Statistik nicht unterscheiden.

Der neue Stammbaum bildet aber nur einen kleinen Ausschnitt der Gebärdensprachen und ihres Vokabulars ab. Als engster Verwandter der Deutschen Gebärdensprache gilt zum Beispiel die Israelische, die in dieser Stichprobe nicht enthalten war. Künftige Untersuchungen sollten mehr Sprachen und andere Merkmale einbeziehen, räumen die Forschenden ein. Mit ihrer Studie wollten sie zunächst zeigen, dass sich die historische Linguistik nicht auf die gesprochene Sprache beschränken müsse.

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