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Neutronenzerfall: Dämpfer für Dunkle-Materie-Jäger

Seit Monaten verfolgen Physiker eine spannende Fährte beim Lösen des größten Rätsels ihrer Zunft. Doch nun sieht es so aus, als handle es sich um einen Irrweg.
Galaxienhaufen Abell 520

Es ist wohl eine der aufregendsten Fährten, der Physiker derzeit bei der Jagd nach Dunkler Materie nachgehen: Das seit 80 Jahren bekannte Neutron könnte sich hin und wieder in Teilchen der rätselhaften Substanz verwandeln, mutmaßen Experten. Damit ließe sich eine kuriose Diskrepanz erklären, die seit den 1990er Jahren bei Präzisionsmessungen der Neutron-Lebensdauer auftaucht.

Neutronen sind ungeladene, aus Quarks zusammengesetzte Teilchen. Eigentlich stecken sie gemeinsam mit Protonen fest in Atomkernen. Wenn man sie jedoch herauslöst, werden sie instabil. Nach ungefähr einer Viertelstunde wandeln sich Neutronen über den so genannten Betazerfall in Protonen um. Aber wie lange überdauern freie Neutronen genau?

Die beiden besten Messmethoden liefern hier unterschiedliche Ergebnisse: Wenn Forscher die ungeladenen Partikel in eine Art Flasche packen und nach einiger Zeit nachschauen, wie viele von ihnen noch vorhanden sind, sind die Neutronen im Durchschnitt nach 14 Minuten und 39 Sekunden zerfallen. Wenn sie hingegen einen Neutronenstrahl analysieren und messen, wie viele der Partikel sich mit der Zeit in Protonen umgewandelt haben – die zweite etablierte Methode –, erhalten Wissenschaftler ein um neun Sekunden größeres Ergebnis.

Neun Sekunden Unterschied

Der Unterschied in der Lebensdauer wirkt für Laien nicht groß, ist aus Sicht der Wissenschaft aber enorm. Er könnte zwar prinzipiell auf Ungenauigkeiten in einem der Messverfahren zurückgehen. Seit Langem suchen Experten nach solchen Fehlerquellen, doch sie finden einfach nichts, was die Diskrepanz erklären würde. Im Gegenteil: Die Messungen werden immer genauer, aber die neun Sekunden Unterschied wollen einfach nicht verschwinden.

Strahlungsdetektor | Am National Institute of Standards and Technology schießt ein Neutronenstrahl durch ringförmige Detektoren. Diese registrieren, wenn sich ein Neutron in ein Proton umwandelt.

Daher sorgte ein Szenario, das Bartosz Fornal und Benjamin Grinstein von der University of California in San Diego im Januar 2018 vorgeschlagen haben, für großes Aufsehen: Demnach könnten sich Neutronen manchmal in Dunkle-Materie-Teilchen statt in Protonen umwandeln. In den ultrakalten Flaschen – die erste Messmethode – würden dadurch mehr Neutronen verschwinden als angenommen. Die Versuche mit Neutronenstrahlen wären für diese Art des Zerfalls hingegen blind, da Forscher in ihnen nur jene Protonen zählen, in die sich die zerfallenen Neutronen umgewandelt haben.

Der Teil, der zu Dunkler Materie geworden wäre, würde hingegen nicht auftauchen, argumentierten Fornal und Grinstein. Entsprechend ergäbe sich eine scheinbar längere Lebensdauer der Neutronen. Diese Hypothese hat allerdings bereits einen Rückschlag einstecken müssen: Eigentlich müsste zusammen mit der Umwandlung in Dunkle Materie auch ein Gammaquant freigesetzt werden. Ein eigens an einer der Messflaschen installierter Detektor hat aber keine derartigen Signale aufgefangen, berichteten Wissenschaftler des Los Alamos National Laboratory im Februar.

Ein ganzer Dunkle-Materie-Sektor?

Aus Sicht von Fornal und Grinstein ist jedoch auch eine Umwandlung denkbar, bei der statt einem Dunkle-Materie-Teilchen und einem Gammaquant gleich zwei Dunkle-Materie-Partikel entstehen, wobei es sich allerdings um verschiedene Teilchentypen handeln würde. Das macht die Sache noch spannender, denn damit würde sich gleich ein ganzer Dunkle-Materie-Sektor vor unseren Augen verstecken. Aber leider scheint auch diese Variante dem etablierten Wissenskanon der modernen Physik zu widersprechen, berichten nun Wissenschaftler in zwei Aufsätzen im Fachmagazin »Physical Review Letters«.

Demnach würde der Neutronenzerfall in zwei dunkle Teilchen die Eigenschaften von Neutronensternen deutlich verändern. Konkret dürften die exotischen, extrem kompakten Sternleichen lediglich 0,7 Sonnenmassen auf die Waage bringen. Doch das steht in krassem Widerspruch zu bisherigen Beobachtungen im Weltall. Dort sind bisher nur Neutronensterne aufgetaucht, die mehr Masse als unsere Sonne haben.

Retten lässt sich der Traum vom Neutron, das in Dunkle Materie zerfällt, vermutlich nur mit sehr ungewöhnlichen Annahmen über die Eigenschaften der hypothetischen Partikel. So müssten die Teilchen sehr viel stärker miteinander interagieren als erwartet, dürften dieses Verhalten aber bloß bei bestimmten Abständen zeigen.

Für gewöhnlich führen solche zusätzlichen Annahmen dazu, dass ohnehin spekulative Erklärungsversuche für unverstandene Phänomene deutlich an Reiz verlieren. So dürfte es auch bei der Dunklen-Materie-Theorie rund um das Neutron sein: Vermutlich werden Forscher in Laboren nun noch mal genauer nach möglichen systematischen Fehlern in den Lebenszeit-Messmethoden suchen.

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