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Bemannte Raumfahrt: Boeings programmierter Schlamassel

Eigentlich wollte der Raumfahrtkonzern seinen Konkurrenten SpaceX ausstechen und bald Astronauten ins All transportieren. Aber das Traditionsunternehmen hat es offenbar vergeigt, trotz üppiger Förderung durch die NASA. Das spielt Elon Musk in die Hände.
Starliner-Kapsel (künstlerische Animation)

Wenn eine Raumkapsel sicher aus dem Weltall zurückkommt und niemand wirklich glücklich ist, läuft etwas schief. So erging es dem US-Raumfahrtkonzern Boeing im Dezember 2019: Der Testflug der Starliner-Raumkapsel, noch ohne Crew an Bord, sollte eigentlich ein Triumph werden. Ein wichtiger Schritt hin zum ersehnten Start amerikanischer Astronauten mit amerikanischen Raumfahrzeugen – etwas, das seit 2011 nicht mehr möglich ist.

Doch der Testflug geriet zu einem herben Rückschlag für Boeing. Starliner schaffte es nicht, die Internationale Raumstation ISS zu erreichen, sein eigentliches Ziel. Er musste bereits nach zwei Tagen wieder landen. Und er schrammte dabei – wie erst jetzt sechs Wochen später durchgesickert ist – offenbar nur knapp an einer Katastrophe vorbei.

Viel Geld für ein patriotisches Ziel

Die Chancen, dass Boeing schon bald Astronautinnen und Astronauten ins All befördert, stehen damit so schlecht wie schon lange nicht mehr. Konkurrent SpaceX, der ebenfalls an Crew-Flügen zur ISS arbeitet, scheint hingegen besser aufgestellt. Noch vor Mitte des Jahres 2020 könnten sich die ersten SpaceX-Raumfahrer auf den Weg ins All machen.

Es wird auch Zeit. Mehr als sechs Milliarden Euro hatte die US-Raumfahrtbehörde NASA im Oktober 2014 in die Hand genommen, damit alsbald wieder amerikanische Astronauten mit amerikanischen Raketen von amerikanischem Boden starten können, wie die NASA immer wieder im schönsten Patriotenduktus beschwört. Die Fähigkeit hatten die USA verloren, als sie die Spaceshuttle-Flotte im Sommer 2011 wegen Sicherheitsbedenken und immenser Startkosten eingemottet hatten.

Boeing CST-100 Starliner | Die neue Raumkapsel sollte nach ihrer Rückkehr aus dem All auf dem Land aufsetzen, nicht im Wasser wie die bisherigen.

Eine Sache sollte dieses Mal anders werden als in der Vergangenheit: War der Spaceshuttle noch eine Auftragsarbeit der NASA – geplant, bezahlt und betrieben mit Steuergeldern –, sollten nun private Unternehmen diese Aufgabe übernehmen. Sie sollten auf eigenes Risiko und nach eigenen Ideen, aber unter den wachen Augen der NASA ein Raumschiff entwickeln, bauen, testen. Und sie sollten es schließlich als Taxi zur ISS einsetzen, mit NASA-Astronauten als zahlenden Passagieren. Geplanter Erstflug: 2015.

Umgerechnet etwa 2,4 Milliarden Euro bekam SpaceX dafür, Boeing sogar 3,8 Milliarden Euro. Man habe schließlich, heißt es aus dem Luft- und Raumfahrtkonzern, bei null anfangen müssen. Im Gegensatz zu SpaceX, das mit seiner Dragon-Kapsel bereits einen Frachter für die ISS entwickelt hatte, der nur umgebaut werden musste. In Wahrheit dürfte Boeing bei seinem Angebot an die NASA aber einfach höher gepokert haben – im Vertrauen darauf, als Platzhirsch mit traditionell guten Verbindungen zur Raumfahrtagentur ohnehin zum Zug zu kommen.

Wie SpaceX an Boeing vorbeizog

Ende 2016 gewährte die NASA Boeing sogar noch einen Nachschlag in Höhe von 260 Millionen Euro für »besondere Bemühungen«, wie ein Generalinspekteur der NASA 2019 aufdeckte. Man habe verhindern wollen, dass sich Boeing aus dem Projekt zurückziehe, heißt es bei der NASA. Man habe niemals mit einem Ausstieg gedroht, erwidert hingegen Boeing.

Wie auch immer: SpaceX bekam kein zusätzliches Geld. Unterm Strich zahlt die NASA somit für jeden Sitzplatz in einer Crew-Dragon-Kapsel 50 Millionen Euro, während in Boeings Starliner gut 80 Millionen Euro fällig werden. Das ist mehr als die NASA derzeit an die Russen überweist für Mitfluggelegenheiten in deren Sojus-Kapseln.

Das zusätzliche Geld hat Boeings Bilanzen sicherlich gutgetan. Vom Starliner-Projekt kann man das nicht unbedingt behaupten. Um die Zulassung für den Transport von Astronauten und letztlich den kommerziellen Betrieb zu erhalten, müssen SpaceX und Boeing eine Reihe von Tests bestehen. Der wichtigste ist eine Art Generalprobe, nur ohne Crew: Start ins All, andocken an die ISS, ablegen, Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, sichere Landung.

Mission gerettet, Ruf ruiniert?

Bei Boeing stand dieser Test am 20. Dezember 2019 an – und war im Grunde schon 30 Minuten nach dem Start wieder vorbei: Wegen eines Softwarefehlers ging Starliners interne Uhr falsch. Das Raumschiff zündete seine Triebwerke für den Abstecher zur ISS nicht. Die Kapsel konnte zwar eine Erdumlaufbahn erreichen, an einen Flug zur Raumstation war aber nicht mehr zu denken.

Es war nicht der einzige und wohl auch nicht der schlimmste Fehler, wie das Aerospace Safety Advisory Panel (ASAP) der NASA vergangene Woche überraschend publik machte. Laut dem unabhängigen Sicherheitsgremium hätte ein weiteres Softwareproblem beinahe dazu geführt, dass die Kapsel beim Abtrennen ihres Antriebsmoduls kurz vor dem Wiedereintritt außer Kontrolle geraten wäre. Starliner hätte dabei leicht zerstört werden können. Erst drei Stunden vor der geplanten Landung, dem ersten sanften Aufsetzen einer US-Kapsel auf festem Boden, gelang es den Boeing-Ingenieuren, ein wichtiges Softwareupdate ins All zu schicken.

»In unseren Augen wies der Testflug eine Menge Anomalien auf«, sagte NASA-Administrator Jim Bridenstine vergangenen Freitag bei einer hastig einberufenen Telefonkonferenz für Journalisten. ASAP-Mitglied Paul Hill, ein ehemaliger Flugdirektor für die ISS, wird deutlicher, wie das Online-Magazin »Ars Technica« berichtet: Das Sicherheitsgremium habe »weit reichende Sorgen«, wie gründlich Boeing seine Software überprüfe.

Trotz »mehrfacher Schutzmaßnahmen« und obwohl man sie habe erkennen können, seien die Fehler im Vorfeld nicht aufgefallen, schreibt auch die NASA in einem Blogbeitrag. Mehrfach habe es Punkte im Prozess der Qualitätssicherung gegeben, an denen Boeing die Probleme hätte finden können – oder sollen.

Elons Musks Joint – und die Folgen

Um solche Fehler in Zukunft auszuschließen, will die NASA das gesamte Verfahren der Softwareentwicklung sowie Verifikation bei Boeing unter die Lupe nehmen. Und nicht nur das: Die Raumfahrtbehörde will das Unternehmen auch einer umfassenden Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Eigentlich hätte das bereits Anfang 2019 der Fall sein sollen. Damals hatte die NASA angekündigt, die Sicherheitskultur sowohl bei SpaceX als auch bei Boeing zu untersuchen, nachdem SpaceX-Chef Elon Musk öffentlich Marihuana geraucht hatte. Boeing, der Platzhirsch mit dem guten Draht zur NASA, wurde dann aber verschont – angeblich aus Kostengründen. Nun kommt der Konzern nicht darum herum.

Noch ist völlig offen, was all das für die weiteren Flüge bedeutet. Die NASA will sich nicht einmal darauf festlegen, ob Boeing den Testflug ohne Crew wiederholen muss oder ob beim nächsten Mal – allen Fehlern und verfehlten Zielen zum Trotz – Astronauten einsteigen dürfen. Mit einer schnellen Aufnahme von regulären Flügen zur ISS ist dennoch nicht zu rechnen. Allein die Starliner-Software, die man nun Schritt für Schritt überprüfen will, besteht laut Boeing aus einer Million Befehlszeilen.

SpaceX auf der Zielgeraden

Konkurrent SpaceX ist derweil fast am Ziel, trotz mehrerer Rückschläge. So versagten unter anderem Bremsfallschirme, und eine Raumkapsel explodierte auf dem Prüfstand. Den Testflug zur ISS, der Boeing nun so viel Probleme bescherte, hat SpaceX bereits im März 2019 erfolgreich absolviert. Neben einigen weiteren Fallschirmtests stehen nun vor allem noch die Dokumentation und anderer Papierkram für die NASA an. Firmengründer Musk, dessen Ankündigungen oftmals zu optimistisch sind, hofft daher, schon im zweiten Quartal seine Astronauten auf die Reise schicken zu können.

Den letzten spektakulären Test hat SpaceX jedenfalls gerade erfolgreich hinter sich gebracht: Im Fall eines Problems kurz nach dem Start muss sich die Crew-Dragon-Kapsel von der Rakete wegkatapultieren und dadurch aus der Gefahrenzone bringen. Mitte Januar bewies sie in Cape Canaveral, dass das funktioniert. Die anschließend kopflose Rakete zerbrach und explodierte wie erwartet – unter lautem Gejohle der SpaceX-Ingenieure, wie damals im Webcast zu hören war.

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