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Angemerkt!: Strafminderung dank Hirnscan

Ein italienisches Gericht stufte eine Mörderin auf der Grundlage von Hirnscandaten als vermindert schuldfähig ein. Wissenschaftlich gerechtfertigt ist das nicht.
Stephan Schleim
Lässt sich mittels Hirnscans zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden oder die Schuldfähigkeit von Tätern beurteilen? Selbst in den technikoptimistischen Vereinigten Staaten sind die Gerichte in dieser Hinsicht vorsichtig: Gewaltverherrlichende Computerspiele manipulieren die Gehirne von Jugendlichen? Bitte mit mehr als Gehirnkorrelaten belegen! Hirnaufnahmen per Kernspintomografie untermauern die Glaubwürdigkeit von Aussagen? Von zwei US-Gerichten unabhängig voneinander abgeschmettert. Und auch in Deutschland sind "Lügendetektoren" nicht zugelassen.

Der Neuroforscher Kent Kiehl von der University of New Mexico in Albuquerque trat zwar 2005 in den Zeugenstand, um für ein milderes Urteil im Fall des Serienmörders Brian Dugan zu plädieren; er durfte dabei aber keine Hirnaufnahmen präsentieren. Da Studien darauf hingedeutet hatten, dass Menschen eine wissenschaftliche Theorie allein dann schon für glaubwürdiger halten, wenn sie mit Hirnscanbildern garniert wird, musste sich Kiehl mit simplen Skizzen behelfen. Die Geschworenen verhängten die Höchststrafe – obwohl die emotionsverarbeitenden Hirnregionen des Täters angeblich "anders funktionierten".

In Italien hingegen sind die Gerichte gegenüber neurowissenschaftlichen Indizien offenbar aufgeschlossener. 2009 wurde dort einem Mörder, dem man zuvor schon wegen einer psychiatrischen Störung strafmindernde Umstände zuerkannt hatte, ein weiteres Jahr seiner Haftstrafe erlassen. Die Hirnforscher Pietro Pietrini und Guiseppe Sartori hatten eigens ein Gutachten geliefert: Dem zufolge verfügte der Delinquent über einen Genotyp, welcher sich ungünstig auf seine Hirnphysiologie auswirke und ihn für aggressives Verhalten anfälliger mache.

2011 nun fiel das Gerichtsurteil über die geständige Mörderin Stefania Alberti nach einem Gutachten derselben Hirnforscher ebenfalls milder aus. Die Frau hatte zugegeben, ihre Schwester umgebracht und deren Leiche verbrannt zu haben; ein Mordversuch an den Eltern scheiterte. Zunächst widersprachen sich zwei psychiatrische Gutachten über den Geisteszustand der Frau. Die beiden erneut hinzugezogenen Hirnforscher wollten nun Hinweise darauf gefunden haben, dass die Mörderin wohl doch psychisch krank sei.

So weise sie im Vergleich zu zehn normalen Kontrollpersonen ein geringeres Hirnvolumen im vorderen zingulären Kortex sowie in der Insula auf. Laut den Gutachtern stehen beide Hirnbereiche mit aggressivem Verhalten in Zusammenhang. Außerdem habe man auch bei der Geständigen wieder das Risikogen gefunden. Das Gericht verurteilte Alberti anschließend zu 20 Jahren Haft – an Stelle von lebenslänglich.

Das Problem: Nach einhelliger Meinung von Forschern ist es nicht möglich, in einem Einzelfall auf Grund von Hirnscans oder Gentests eine psychiatrische Erkrankung zu diagnostizieren. Die Interpretation der beiden Hirnforscher ist somit höchst fragwürdig. Erstens stehen auch viele weitere Hirnareale mit Aggressivität in Zusammenhang – darunter die Hippocampi, die Amygdalae (Mandelkerne) oder der rechte obere temporale Gyrus. Diese waren bei der Mörderin aber nicht verändert. Zweitens ist die Insula an der Verarbeitung vieler verschiedener Gefühle wie etwa Angst, Ärger, Schuld, Freude, Trauer und Ekel beteiligt.

Die bei Frau Alberti gefundenen Besonderheiten lassen sich auch ohne jeden Verweis auf psychiatrische oder kriminelle Merkmale erklären. Anscheinend hat sich die Richterin vom trügerischen Charme der Hirnaufnahmen beeindrucken lassen.

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  • Literaturtipp
Schleim, S.: Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Heise, Hannover 2011
Überblick zu den ethischen Problemen der Neuroforschung
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