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Molekulare Motoren - endlich Bewegung in der Muskelforschung

In den letzten elf Monaten gab es beachtliche Fortschritte bei der Untersuchung von Struktur und Funktion der an der Muskelbewegung beteiligten Moleküle. Der Mechanismus der Erzeugung von Muskelkraft steht damit kurz vor der Aufklärung.


Ob Arnold Schwarzenegger seinen Bizeps spielen läßt oder eine Jakobsmuschel ihre Schalen auf- und zuklappt – die dabei ablaufenden molekularen Vorgänge sind die gleichen. Ein Muskel verkürzt sich beim Anspannen um ungefähr ein Drittel seiner Länge, weil in jeder einzelnen Zelle die dünnen und dicken Filamente aneinander vorbei gleiten. Als Motor dieser Bewegung gilt das Protein Myosin, das mit seinem langen Schwanz in den dicken Filamenten verankert ist und mit seinem Kopf die hauptsächlich aus Actin bestehenden dünnen Filamente festhalten oder loslassen kann; und als Treibstoff dient der zelluläre Energieträger Adenosintriphosphat (ATP).

Obwohl diese Vorstellungen bereits in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelt worden sind, konnte bis heute nicht genau geklärt werden, wie die beim Abbau von ATP gewonnene Energie in die Gleitbewegung der Filamente umgesetzt wird. Nachdem in den letzten Monaten aber geradezu eine Flut von Strukturinformationen aufgelaufen ist, an denen es bisher mangelte, und Biophysiker erstmals sogar einzelne Moleküle der Motorproteine in ihrem Bewegungsablauf beobachten konnten, scheint die Lösung des Rätsels nun greifbar nahe.

Den Auftakt für ein turbulentes Dreivierteljahr in der Erforschung der Motorproteine lieferten lvan Rayment und seine Mitarbeiter an der Universität von Wisconsin in Milwaukee, als sie im Juli vergangenen Jahres die Kristallstruktur des Myosin-Kopfes vorstellten. Um das Protein, das sie aus Hühnermuskeln gewonnen hatten, kristallisierbar zu machen, mußten sie den ungefähr 160 Nanometer (millionstel Millimeter) langen Schwanz abzwicken und den Kopf, der alle wichtigen Funktionselemente enthält und auch ohne Schwanz mit Actin-Filamenten wechselwirken kann, chemisch leicht modifizieren.

Aus dem atomaren Aufbau des Myosin-Kopfes und der bereits seit 1990 bekannten Struktur des Actins errechnete Rayments Arbeitsgruppe ein Modellbild für die Wechselwirkung zwischen den beiden Komponenten ("Trends in Biochemical Sciences", Band l9, Seite 129 bis 134, 1994). Sie paßt zu dem hypothetischen Reaktionsschema für das Myosin, wonach pro Kontraktionszyklus ein ATP-Molekül verbraucht wird (Bild). Anhand der räumlichen Anordnung der beweglichen Teile des Actin-Myosin-Motors konnten die Forscher auch die Schrittweite bei einem einzelnen Bewegungszyklus eingrenzen: Sie mußte zwischen sechs und zwanzig Nanometer betragen.

Einen bedeutenden Durchbruch erzielten wenig später Karel Svoboda vom Rowland Institute for Science in Cambridge (Massachusetts) und seine Kollegen bei einem weiteren Motorprotein, das sich in der Zelle an den Mikrotubuli entlanghangelt und dabei ganze Zellorganellen mitschleppen kann: dem Kinesin. Sie brachten das Molekül dazu, ein Kügelchen aus Silicagel durch einen zweigeteilten Laserstrahl zu ziehen. Aus den Interferenzmustern des aufgefangenen Lichtes konnte die Bewegung mit der enormen Genauigkeit von einem Nanometer rekonstruiert werden ("Nature", Band 365, Seite 721 bis 727, 1993). Die Forscher leiteten aus diesen Daten ab, daß Kinesin sich in Schritten von jeweils acht Nanometern bewegt.

Allerdings ist die Struktur dieses Motorproteins noch nicht bekannt, so daß der optisch verfolgte Bewegungsablauf nicht molekular gedeutet werden kann. So war es wiederum ein wichtiger Fortschritt, als James A. Spudich und seine Kollegen an der Stanford-Universität in Kalifornien die Interferenz-Methode verfeinern und sie dadurch auch auf einzelne Myosin-Moleküle anwenden konnten, die sie aus Kaninchenmuskeln isoliert hatten ("Nature", Band 368, Seiten 113 bis ll9, 1994). In dieser Studie wurde zudem eine Gegenkraft angelegt und so lange gesteigert, bis die Bewegung zum Stillstand kam. Damit ließ sich nicht nur die Schrittweite zu elf Nanometern bestimmen, sondern auch die Kraft der Muskelmoleküle messen; sie beträgt drei bis vier Piconewton (ein Piconewton ist ein Billionstel der Kraft, die man aufwenden muß, um eine Masse von 102 Gramm hochzuhalten).

Kurze Zeit später erschien wiederum eine röntgenkristallographische Untersuchung eines Muskelproteins. Diesmal wurde aus dem Motor, der Kamm-Muscheln wie der Jakobsmuschel zum Öffnen und Schließen ihrer Gehäuse und damit auch zum Schwimmen dient, sozusagen das Gaspedal herausgepickt: ein kleiner Bereich auf der von den dünnen Filamenten abgewandten Seite des Kopfes, der die Aktivität der ATP-abbauenden Funktion des Myosin-Kopfes regulieren kann. Ob es Gas gibt oder drosselt, hängt von der Konzentration der Calcium-Ionen in der Muskelzelle ab.

Die Kristallstruktur, welche die Arbeitsgruppe von Carolyn Cohen an der Brandeis-Universität in Waltham (Massachusetts) in Zusammenarbeit mit drei weiteren Gruppen erstellte ("Nature", Band 368, Seiten 306 bis 312, 1994), verspricht nicht nur Aufschluß über die Funktionsweise dieses Drosselventils, das im Myosin der Wirbeltiere nicht vorhanden ist, sondern ergänzt auch in anderer Hinsicht das erwähnte Strukturbild des Myosin-Kopfes. So waren in diesem Fall für die Kristallisation keine chemischen Modifikationen erforderlich, und das Muschel-Protein liefert in einem gewissen Bereich ein scharfes Bild, in dem das Hühner-Myosin, weil es in zwei verschiedenen Strukturvarianten (Isoformen) vorliegt, verwackelt erscheint.

Möglicherweise reichen all diese Informationen bereits aus, den molekularen Mechanismus der Muskelkontraktion zu rekonstruieren. Sobald die Strukturdaten über Datenbanken allgemein zugänglich sind, können sich die Arbeitsgruppen, die während der letzten drei Jahrzehnte geduldig kleine Teile des Puzzles sortiert haben, daranmachen, die Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die Zeit des Stillstands in der Muskelforschung ist jedenfalls vorüber.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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