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Interview: Die Waffe der Fanatiker

Über die Lehren aus den Terrorangriffen vom 11. September sprach Spektrum der Wissenschaft mit dem Historiker Walter Laqueur. Der Vorsitzende des International Research Council im Center for Strategic and International Studies, Washington DC, hat unter anderem das Buch "Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus" veröffentlicht.


Spektrum der Wissenschaft: Herr Laqueur, gibt es eine rationale Erklärung für die Ereignisse des 11. September?

Laqueur: Natürlich. Wer aber genau hinsieht, erkennt, dass es keine einfachen Antworten gibt. Viele Beobachter nutzen in den Medien die Gelegenheit, den Angriff nur gemäß ihrer Weltanschauung auszulegen, anstatt seriös nach Ursachen zu fragen. Die Annahme etwa, die Terror-Attacke sei eine Reaktion auf Verzweiflung, Armut, Hunger und Unterdrückung, ist ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält.

Die Tatsachen hingegen sehen anders aus. In den ärmsten Ländern der Welt gibt es kaum Terrorismus. Und Osama bin Laden, der Hauptverdächtige nicht nur der jüngsten Terroranschläge, zählt gewiss nicht zu den Ärmsten. Auch die Selbstmordpiloten sind nicht in den Slums von Kairo oder im Elend eines Flüchtlingslagers aufgewachsen. Sie stammen ausnahmslos aus der Mittelschicht Saudi-Arabiens oder anderer Länder. Sie repräsentieren eine Elite, die sich allenfalls selbst zum Anwalt der Armen aufschwingen will. Ihr Terrorismus ist nicht das Schwert der Unglücklichen – er ist die Waffe von Fanatikern.

Spektrum: Fanatismus allein kann die Taten aber doch nicht erklären?

Laqueur: Aber er wird gerne übersehen. Wenn Kommentatoren fragen, was wir denn nur getan haben, solchen Hass auf uns zu ziehen, verschließen sie ihre Augen vor den irrationalen Elementen solcher Taten. Ich sage keineswegs, die Terroristen seien nur Wahnsinnige. Aber zum Terrorismus gehört auch immer die Paranoia: die Annahme, in der Welt herrsche eine Verschwörung okkulter Kräfte. Linksradikale verteufeln gerne den Weltimperialismus, Rechte dagegen Juden oder Schwarze. Der Glaube an dunkle Mächte im Hintergrund motiviert die fürchterlichen Anschläge. Nicht alle Paranoiker sind Terroristen, aber bei allen Terroristen findet sich Verfolgungswahn.

Spektrum: Welche Rolle spielt der Islam für diese Täter?

Laqueur: Der Terrorismus, wie er durch die Attentäter vom 11. September repräsentiert wird, speist sich aus religiösnationalistischen Impulsen – auf den hat der Islam kein Monopol. Er findet sich bei Christen, Juden, Hindus, in Japan und auch andernorts. Traurige Tatsache ist indes, dass derzeit die Gewalt als Mittel zum Zweck vor allem in moslemischen Ländern oder in Staaten, in denen Moslems mit Menschen anderer Hintergründe zusammenleben, gepredigt wird. Dort sind heute fast neunzig Prozent der globalen Gewaltkonflikte beheimatet: von den Philippinen bis Somalia und Nigeria, von Kaschmir bis Palästina/Israel, Mazedonien und Algerien.

Spektrum: Deutet das aber nicht auf eine Wurzel in ihrer Religion hin?

Laqueur: Nicht in der Religion, sondern in den islamischen Staaten. Einst an der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Spitze, sind sie bedauerlicherweise zurückgefallen – nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch verglichen mit dem Fernen Osten. Doch statt Selbstkritik zu üben, schieben sie die Schuld dem "großen Satan" zu, den USA. Es gibt ganz gewiss viele andere Minderheiten und Gruppen, die berechtigteren Groll hegen als die, die am lautesten klagen, aber sie begehen keine terroristischen Angriffe.

Spektrum: Gibt es Ihrer Meinung nach so etwas wie "gerechten Terrorismus"?

Laqueur: Viele nationalistischen Terroristen der Gegenwart wie die Tamil Tigers oder die Mitglieder der Eta haben Beschwerden, die zumindest zum Teil berechtigt sind. Aber ihre Ziele gehen weit über jedes zu rechtfertigende Maß hinaus, und selbst wenn sie vollkommen gerechtfertigt wären, müsste man zu ihrer Verwirklichung anderen Menschen Unrecht zufügen. Alle sind sich einig, dass etwas für die Palästinenser getan werden muss, die seit dem Krieg von 1948, also seit mehr als fünfzig Jahren, in Flüchtlingslagern festgehalten werden. Aber ihre Rückkehr würde heute zu einem Bürgerkrieg führen.

Spektrum: Welche Ziele verfolgten die Selbstmordpiloten?

Laqueur: Sie wollten vor allem bestrafen. In ihrem Wahnsystem ist Amerika der "große Satan", weil er ihre religiös-kulturellen Vorstellungen verletzt, indem er weibliche Soldaten auf die arabische Halbinsel geschickt hat, den Staat Israel unterstützt oder den Irak bombardiert.

Spektrum: Droht uns bald der nächste Anschlag?

Laqueur: Das hängt davon ab, wie und wie lange man energisch gegen die Terroristen vorgeht. Wenn die Sache nach ein paar Monaten einschläft, dann kommt es zu neuen Angriffen. Ich befürchte allerdings weniger, dass sie noch einmal ein Flugzeug als Bombe benutzen, da eine Entführung heute ungleich schwieriger ist als vor dem Attentat. Aber gemäß den Eskalationsstufen des Terrors werden sie sich bemühen, einen noch grauenhafteren Anschlag mit Massenvernichtungswaffen zu verüben. Da verfallen sie womöglich auf chemische Kampfstoffe, die leichter zu handhaben sind als Bakterien oder Viren.

Spektrum: Zu welchen Waffen könnten die Terroristen ihrer Meinung nach künftig greifen?

Laqueur: Viele Terrorismusexperten – auch ich – haben zweifellos unterschätzt, wie viel Schaden sich mit einfachen Mitteln anrichten lässt. Die Terroristen haben das klar erkannt. Doch in Zukunft gestaltet sich eine Flugzeugentführung oder eine Detonation mit einer Lastwagenbombe weitaus schwieriger. Deshalb auch meine Befürchtung, die Terroristen könnten auf Massenvernichtungswaffen umsteigen.

Spektrum: Wie werden sich Terroristen künftig organisieren?

Laqueur: Die Anschläge in New York und Washington waren eine gut konzertierte Aktion einer vielköpfigen Terroristengruppe. Ich glaube allerdings, dass künftig eher kleine Zellen agieren werden, oder Einzeltäter vom Schlage eines "Una-Bombers", der in den USA zwei Jahrzehnte lang Briefbomben versandte. Solche Leute lassen sich schwerer entdecken, und je weniger Mitglieder, desto stärker kann sich das Element des Wahnsinns durchsetzen – da ist alles möglich. Große Gruppen agieren in der Regel rationaler.

Spektrum: Was kann der Geheimdienst tun, um diesen Leuten beizukommen?

Laqueur: Die Geheimdienste der Vereinigten Staaten haben eindeutig versagt. Angesichts einer so großen Gruppe, die eine ganze Attentatsserie vorbereitet hat, hätte der Geheimdienst in der Lage sein sollen, zumindest eine allgemeine Warnung abzugeben. Doch gab es weder die Ressourcen noch das Personal, um terroristische Gruppen zu infiltrieren. Zum Teil mag dies an rechtlichen Gründen liegen, die den Agenten nicht die volle Handlungsfreiheit geben, zum Teil aber auch daran, dass nicht genügend Geld vorhanden war. Für zuverlässige Informationen und das Überführen von Terroristen ist Geld nötig – doch die bereitgestellten Mittel sind minimal und stehen in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den moderne Terroristen der Gesellschaft zufügen können.

Spektrum: Glauben Sie, dass die USA bislang politisch klug vorgegangen sind?

Laqueur: Ich glaube, dass ein Vergeltungsschlag direkt nach der Katastrophe beträchtliche Wirkung gehabt hätte. Terrorismus basiert nicht auf gesundem Menschenverstand und elementarer Logik, genauso wenig wie effektive Gegenmaßnahmen. Die paradoxe und perverse Lehre, die aus der Geschichte des Terrorismus gezogen werden kann, ist diese: Selbst wenn man diejenigen schlägt, die nur am Rande beteiligt sind, kann man bemerkenswert vorteilhafte Auswirkungen erzielen. Die USA haben General Gaddhafi angegriffen, auch wenn der Libyer, der den weltweiten Terrorismus jahrelang unterstützt hat, mit den Bombenanschlägen, die diesen Vergeltungsschlag ausgelöst haben, unschuldig gewesen sein mag. Die USA bombardierten eine pharmazeutische Fabrik im Sudan, in der falschen Annahme, dort würde Giftgas hergestellt. Was war das Resultat dieser amerikanischen Fehler? Sowohl Libyen als auch der Sudan haben sich vom Terrorismus distanziert.

Spektrum: Können weitere Attentate verhindert werden?

Laqueur: Das sollte sogar das vorrangige Ziel sein, denn damit lassen sich noch Menschenleben retten. Die Kampagne, die den USA dazu bevorsteht, könnte man mit der Trockenlegung eines Sumpfes vergleichen. Was das unter anderem bedeutet, ist klar: Der Transfer von Geldern und von Technologie an die Terroristen muss verhindert werden. Ohne staatliche Hilfe wird sich das Aktionsvermögen der Terroristen stark reduzieren. Daher ist es auch notwendig, sich mit den Staaten zu beschäftigen, die Terroristen beschützen und unterstützen. Sie sollten unter konstanter Beobachtung stehen, und man muss ihnen mit massiver Bestrafung drohen. Es liegt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in Ciceros "Lasst sie nur hassen, so lange wie sie sich fürchten".

Spektrum: Die Regierung von Präsident George W. Bush bemüht sich um eine internationale Koalition im Kampf gegen den Terrorismus. Verhilft das zum Erfolg?

Laqueur: Eine breite Koalition zivilisierter Staaten ist vernünftig. Doch sie kann niemals stärker sein als ihr schwächstes Glied. Manche arabische Regierungen sind zögerlich, weil sie gewalttätige Demonstrationen und Umsturzversuche in ihrem Land befürchten.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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