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Erblichkeit kognitiver Stärken und Schwächen

Schätzungsweise 30000 unserer Gene werden im Gehirn ausgeprägt, und jedes könnte mit Intelligenz zu tun haben. Herauszufinden, welche davon bestimmte Komponenten unseres Intellekts mitgestalten oder zur Intelligenz allgemein beitragen, gleicht einer Sisyphusarbeit. Sie trägt aber erste Früchte.


Wir Menschen unterscheiden uns erheblich in sämtlichen Aspekten der Eigenschaft, die wir gemeinhin als Intelligenz bezeichnen. Das zeigt sich nicht nur in unseren Leistungen vom Kindergarten bis hin zur Universität, sondern auch in unserem Alltag: darin nämlich, welche Wörter jemand gebraucht und versteht, wie gut er eine Karte lesen oder Anweisungen begreifen kann und wie leicht jemand Telephonnummern behält oder sich Veränderungen vorzustellen vermag. Wir unterscheiden uns in diesen spezifischen Fertigkeiten allgemein so deutlich, daß wir das oft für selbstverständlich halten. Doch was macht uns darin verschieden?

Plausibel erscheint vielen, daß die Umwelt verantwortlich ist – daß wir sind, was wir lernen. Verfügen wir doch beispielsweise nicht von vornherein über einen umfassenden Wortschatz, sondern müssen ihn uns erst aneignen. Lernen wäre demnach der Mechanismus, über den sich individuelle Unterschiede im Vokabular ausbilden. Und für individuelle Unterschiede beim Erlernen wiederum müßten unterschiedliche Erfahrungen des Kindes verantwortlich sein – wie gut etwa seine Eltern sprachliche Nuancierung vorleben und den Wortschatz fördern oder wie gut der sprachliche Unterricht in der Schule ausfällt.

Tatsächlich dominierten in der Psychologie des 20. Jahrhunderts zunächst Ansätze, welche die Ursachen für die Varianz kognitiver Fähigkeiten in der Umwelt suchten – im häuslichen und schulischen Milieu zum Beispiel. In jüngerer Zeit aber haben sich die meisten Psychologen eine ausgewogenere Sicht zu eigen gemacht, derzufolge Angeborenes und Erworbenes – Anlage und Umwelt – bei der kognitiven Entwicklung zusammenspielen. Weisen doch genetische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte darauf hin, daß Erbanlagen bei der Herausbildung einzelner kognitiver Fähigkeiten eine wesentliche Rolle zukommt. Wissenschaftler kreisen sogar bereits beteiligte Gene ein. Wohlgemerkt, diese Forschungsergebnisse widerlegen keineswegs das Konzept, wonach Umweltfaktoren den Lernprozeß gestalten. Vielmehr deuten sie darauf hin, daß individuelle genetische Unterschiede beeinflussen, wie leicht oder schwer sich jemand beim Lernen tut.

Doch wie groß ist der jeweilige Einfluß von Genen und Umwelt auf spezifische kognitive Fähigkeiten, wie beispielsweise das Erlernen des Wortschatzes? Bei der Suche nach der Antwort bedienen wir uns der quantitativen Genetik: eines statistischen Ansatzes, der sich mit den Ursachen für die Unterschiede in einem Merkmal befaßt, die man zwischen verschiedenen Personen beobachtet.

Der relative Beitrag von Erbe und Umwelt läßt sich beispielsweise durch Vergleich bestimmter kognitiver Testleistungen von Zwillingen und adoptierten Kindern erfassen. Für unsere Analysen haben wir derartige Untersuchungen und Erhebungen aus mehreren Jahrzehnten herangezogen und zusätzlich eigene Studien durchgeführt. So beginnen sich einige Zusammenhänge zu klären: sowohl zwischen speziellen Aspekten der Intelligenz – wie dem sprachlichen Denken und dem räumlichen Vorstellungsvermögen – als auch zwischen einer normalen kognitiven Funktion und bestimmten Beeinträchtigungen wie der Leseschwäche.

Verbale und räumliche Fähigkeiten


Darüber hinaus haben wir und andere Wissenschaftler mit Hilfe der Molekulargenetik erste Erbanlagen näher eingekreist, die diese spezifischen Stärken und Schwächen beeinflussen. Wie wir glauben, wird die Kenntnis dieser Gene schließlich die biochemischen Mechanismen aufdecken helfen, die bei der menschlichen Intelligenz mitspielen. Und dies wiederum könnte es eines Tages ermöglichen, auf nicht-genetischer Ebene zu intervenieren und so der Ausprägung kognitiver Störungen vorzubeugen oder ihre Effekte zu mindern.

Die Vorstellung, daß Erbfaktoren bei der Intelligenz mitwirken, ist für manche Menschen erschreckend, zumindest aber besorgniserregend. Deshalb sollte vorab klargestellt werden, was Genetiker meinen, wenn sie von einem genetischen Einfluß sprechen. Ein Schlüsselbegriff ist die "Erblichkeit", ein statistischer Kennwert. Sie gibt an, welcher Anteil individueller Unterschiede innerhalb einer Population – wieviel der sogenannten Varianz – sich Genen zuschreiben läßt. Sagen wir Genetiker beispielsweise, ein Merkmal sei zu 50 Prozent "erblich", so meinen wir damit: Die Hälfte der Varianz dieses Merkmals, die zwischen verschiedenen Personen festgestellt wurde, hängt mit dem Erbe zusammen (zu einem anderen Zeitpunkt aber kann sich ein anderer Anteil ergeben, wenn beispielsweise die Umwelteinflüsse zunehmen). Aus der Erblichkeit erklärt sich somit nicht, was die Intelligenz einer Einzelperson begründet, sondern was Menschen verschieden macht (siehe Kasten auf Seite 39). Wenn allerdings das Ausmaß der Erblichkeit für ein bestimmtes Merkmal hoch ist, dann pflegt im allgemeinen auch der genetische Einfluß darauf beim einzelnen hoch zu sein.

Wissenschaftliche Analysen von Ähnlichkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern sowie zwischen Geschwistern haben gezeigt, daß kognitive Fähigkeiten "in der Familie liegen". Die größte Familienstudie zu bestimmten Fähigkeiten – in den siebziger Jahren in Hawaii durchgeführt – hat dazu beigetragen, diese Ähnlichkeiten quantitativ zu erfassen. Die Hawaii Family Study of Cognition war ein gemeinsames Projekt von Wissenschaftlern der Universität von Colorado in Boulder und der Universität von Hawaii. Mehr als 1000 Familien und Geschwisterpaare unterzogen sich dabei Tests zu verbalen Fähigkeiten und zum räumlichen Vorstellungsvermögen.

Als statistisches Maß für die Ähnlichkeit ermittelten die Forscher Korrelationen zwischen Verwandten. Eine Korrelation von 1,0 bedeutet, daß die Testwerte der beiden Verglichenen identisch sind; eine von null besagt, daß die Ergebnisse sich nicht mehr gleichen als die von zwei zufällig herausgegriffenen Personen. Da Kinder durchschnittlich die Hälfte ihrer Gene mit jedem Elternteil oder mit ihren Geschwistern gemeinsam haben, kann hier der genetisch bedingte Anteil der Korrelation höchstens 0,5 betragen.

Leseschwäche – unteres Extrem normaler Bandbreite?


In der Hawaii-Studie lagen die bei sprachlichen und räumlichen Tests ermittelten Korrelationen zwischen Angehörigen derselben Familie im Durchschnitt bei 0,25. Dieser Wert allein sagt aber noch nichts darüber aus, ob Erbe oder gemeinsame Umwelteinflüsse für die Ähnlichkeit in den kognitiven Fähigkeiten Familienangehöriger verantwortlich sind. Für Genetiker ein Glücksfall sind deshalb zwei Personenkreise: Zwillinge – ein "Experiment der Natur" – und adoptierte Kinder – ein "soziales Experiment".

Die Zwillingsforschung ist so etwas wie das Arbeitspferd der Verhaltensgenetik. Verglichen werden eineiige Zwillinge, die ja dieselbe genetische Ausstattung besitzen, mit zweieiigen Paaren, die wie gewöhnliche Geschwister nur die Hälfte ihrer Gene gemein-sam haben. Wenn kognitive Fähigkeiten von Genen beeinflußt werden, sollten eineiige Zwillinge in entsprechenden Tests untereinander ähnlicher abschneiden als zweieiige. Aus den ermittelten Korrelationen können Wissenschaftler abschätzen, wie weit Gene die Varianzen in der Allgemeinbevölkerung erklären. Ein grober Schätzwert für die Erblichkeit ergibt sich nämlich, indem man die Differenz zwischen den Korrelationen von eineiigen und zweieiigen Zwillingen verdoppelt.

Den direktesten Weg, die Einflüsse von Anlage und Umwelt auf die Familienähnlichkeit zu entwirren, bieten Adoptionsstudien. Zum einen hat man hier verwandte Individuen mit unterschiedlichem familiärem Umfeld: Das können getrennt aufwachsende Zwillinge sein, doch auch adoptierte Kinder und ihre biologischen Eltern bilden ein Vergleichspaar. Aus den ermittelten Korrelationen läßt sich wieder der Beitrag von Genen zur Familienähnlichkeit abschätzen. Zum anderen entstehen durch ein adoptiertes Kind Vergleichspaare nicht-verwandter Individuen in derselben Familie. Aus deren Korrelationen ist dann der Beitrag einer gemeinsamen Umwelt auf Familienähnlichkeiten abzuschätzen.

In vier Ländern durchgeführte Zwillingsstudien zu spezifischen kognitiven Fähigkeiten haben in den letzten drei Jahrzehnten bemerkenswert konsistente Ergebnisse erbracht (siehe Diagramm unten). Stets waren sich eineiige Zwillinge in ihren verbalen und räumlichen Fähigkeiten wesentlich ähnlicher als zweieiige – gleich ob als Kinder, Heranwachsende oder Erwachsene. Die Ähnlichkeiten bestehen bis ins hohe Alter, wie 1997 die erste Seniorenzwillingsstudie überhaupt ergab. Durchgeführt haben sie Gerald E. McClearn und seine Kollegen an der Staatsuniversität von Pennsylvania in University Park sowie Stig Berg und seine Mitarbeiter am Institut für Gerontologie in Jönköping (Schweden). Viele Gerontologen hatten angenommen, genetische Unterschiede verlören mit zunehmender Erfahrung eines Menschen an Gewicht; doch im Bereich kognitiver Fähigkeiten belegen die Forschungen bisher das Gegenteil. Berechnungen auf der gemeinsamen Grundlage dieser Studien deuten darauf hin, daß in der Allgemeinbevölkerung etwa 60 Prozent der Varianz bei den sprachlichen Fähigkeiten und etwa 50 Prozent der Varianz beim räumlichen Vorstellungsvermögen auf erblichen Einflüssen beruhen.

Untersuchungen an Adoptivkindern erbrachten ähnliche Ergebnisse. So kamen zwei neuere Studien mit getrennt aufgewachsenen Zwillingen auf eine Erblichkeit von etwa 50 Prozent für verbale und räumliche Fähigkeiten. Die eine stammt von einem Team unter Thomas J. Bouchard jr. und Matthew McGue an der Universität von Minnesota in Minneapolis. Die andere ist ein internationales Projekt unter der Leitung von Nancy L. Pedersen vom Karolinska-Institut in Stockholm.

Bei dem von uns 1975 initiierten Colorado-Adoptionsprojekt nutzen wir die Aussagekraft von Adoptionsstudien nicht nur, um die Rolle von Genen und Umwelt näher zu bestimmen; es geht uns auch darum, Entwicklungstendenzen kognitiver Fähigkeiten zu bewerten sowie herauszufinden, inwiefern bestimmte dieser Fertigkeiten miteinander zusammenhängen. Das immer noch laufende Projekt umfaßt mehr als 200 Adoptivkinder, ihre biologischen und ihre Adoptiveltern sowie eine Kontrollgruppe von Kindern, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.

Einige der bisherigen Erkenntnisse sind erstaunlich (siehe Diagramm links). Was beispielsweise Testwerte für die verbalen und räumlichen Fähigkeiten angeht, so sind adoptierte Kinder im Grundschulalter ihrer biologischen Mutter ebenso ähnlich wie in der Kontrollgruppe Kinder ihren leiblichen Eltern. Dagegen gleichen die adoptierten Kinder ihren Adoptiveltern hierin überhaupt nicht. Dies ist nur eines der sich mehrenden Indizien dafür, daß das gemeinsame häusliche Milieu im allgemeinen nicht zu den beobachteten Ähnlichkeiten zwischen Familienmitgliedern beiträgt. Vielmehr scheint die Ähnlichkeit in den ermittelten Testwerten fast ausschließlich von Erbfaktoren gesteuert zu sein – während Umweltfaktoren oft Geschwister letztlich nicht gleich, sondern verschieden machen.

Die Daten der Colorado-Studie offenbaren überdies eine interessante Tendenz während der kindlichen Entwicklung. Offensichtlich wächst der genetische Einfluß im Laufe der Kindheit: Die zunächst geringere Erblichkeit erreicht im mittleren Teenageralter vergleichbare Werte wie bei Erwachsenen. Nehmen wir beispielsweise die Korrelationen der verbalen Fähigkeiten: Hier steigt die Ähnlichkeit zwischen adoptierten Kindern und ihren biologischen Eltern von rund 0,1 im Alter von drei Jahren auf etwa 0,3 im Alter von 16 Jahren. Beim räumlichen Vorstellungsvermögen verhält es sich kaum anders. Innerhalb dieser Spanne scheint sich mit etwa sieben Jahren ein genetisch angestoßener Übergang bei der kognitiven Entwicklung zu vollziehen. Mit ungefähr 16 Jahren ist dann – den Studienergebnissen nach – 50 Prozent der beobachteten Varianz von verbalen Fähigkeiten auf genetische Faktoren zurückzuführen sowie 40 Prozent der Varianz vom räumlichen Denken. Das sind vergleichbare Zahlen wie bei den erwähnten Zwillingsstudien.

Das Colorado-Adoptionsprojekt trägt gemeinsam mit anderen Studien auch dazu bei, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen einzelnen kognitiven Fähigkeiten zu klären. In der Neurowissenschaft geht man gegenwärtig von einem modularen Modell der Intelligenz aus, bei dem verschiedene kognitive Prozesse im Gehirn in anatomisch voneinander getrennten Modulen ablaufen. Dies impliziert, daß spezifische Fähigkeiten auch genetisch distinkt sind – beispielsweise sollten sich genetische Einflüsse auf die verbalen Fähigkeiten nicht stark mit solchen auf das räumliche Denken überlappen.

Nun haben Psychologen aber schon lange erkannt, daß die meisten speziellen kognitiven Fähigkeiten, darunter die verbalen und die räumlichen, in gewissem Maße korrelieren. Personen, die bei einem bestimmten Testtypus gut abschneiden, tun das tendenziell auch bei anderen. Zum Beispiel liegen die Korrelationen zwischen verbalen und räumlichen Fähigkeiten gewöhnlich bei etwa 0,5. Solche "Interkorrelationen" deuten auf einen genetischen Zusammenhang hin.

Auch genetische Studien zu bestimmten kognitiven Fähigkeiten können das modulare Modell der Intelligenz nicht bestätigen. Vielmehr sieht es so aus, als seien vor allem unsere Erbfaktoren verantwortlich für die Überschneidung zwischen beispielsweise verbalen und räumlichen Fähigkeiten. Nach Auswertung des Colorado-Projekts gehen 70 Prozent der Korrelationen zwischen den beiden "Talenten" auf erbliche Einflüsse zurück. Eine ähnliche Größenordnung ergab sich aus Zwillingsstudien mit Kindern, jungen Erwachsenen und solchen mittleren Alters. Somit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß irgendein Gen, das sich mit einer bestimmten kognitiven Fähigkeit assoziieren läßt, zugleich bei anderen mitmischt.

Ohne Fleiß kein Preis?


Solche Gene könnten auch für die schulischen Leistungen relevant sein. Darauf verweisen mehrere Studien. Eine davon stammt von John Loehlin von der Universität von Texas in Austin und Robert Nichols, damals an der National Merit Scholarship Corporation in Evanston (Illinois). Die Forscher prüften in den siebziger Jahren mehr als 2000 Zwillingspaare im High-School-Alter mit dem National Merit Scholarship Qualifying Test. In allen vier Bereichen des Tests – Englisch, Mathematik, Sozialkunde und Naturwissenschaften – erwiesen sich die Werte eineiiger Paare durchweg als deutlich ähnlicher als die zweieiiger Zwillinge. Die Ergebnisse deuten darauf hin, daß etwa 40 Prozent der Variation in solchen Schulleistungstests auf genetischen Faktoren gründen.

Auch bei Zwillingsstudien mit Grundschulkindern und beim Colorado-Adoptionsprojekt zeigte sich ein genetischer Einfluß auf die Schulleistungen. So wie es aussieht, könnte dieser Einfluß fast ebenso hoch sein wie der auf die kognitiven Fähigkeiten. Das überrascht insofern, als Pädagogen seit langem glauben, Schulleistungen seien eher eine Frage von Fleiß als von Begabung. Noch interessanter ist der Befund aus Zwillingsstudien und aus unserem Adoptionsprojekt, daß genetische Einflüsse, die eine Leistungskategorie betreffen, auch in andere Kategorien hineinreichen und daß die zugrundeliegenden übergreifenden Gene vermutlich eben jene sind, die auch kognitive Fähigkeiten beeinflussen können.

Diese Indizien sprechen für ein strikt nicht-modulares Konzept der Intelligenz: eines, das in ihr eine übergreifende, universelle geistige Qualität sieht. Zugleich unterstreichen sie die Bedeutung von kognitiven Fähigkeiten beim Bewältigen von Anforderungen im wirklichen Leben – nicht nur in Tests. Mehr noch: Sie legen nahe, daß Gene für kognitive Fähigkeiten wahrscheinlich auch solche für Schulleistungen sind und umgekehrt.

Angesichts dessen könnte man vermuten, daß bei kognitiven Störungen und dürftigen Schulleistungen ebenfalls genetische Einflüsse zutage treten. Allerdings: Selbst wenn ein Effekt nachgewiesen wird, muß es sich dabei keineswegs um dieselben Gene handeln, welche die normalen kognitiven Funktionen beeinflussen. Das verdeutlicht das Beispiel geistiger Behinderungen: Leichte Formen häufen sich mitunter innerhalb von Familien, schwere tun dies in der Regel nicht. Verursacht werden letztere nämlich unter anderem durch neue Mutationen im Erbgut, Komplikationen bei der Geburt oder durch Kopfverletzungen – Faktoren auf Gen- und Umweltebene, die für das normale Intelligenzspektrum keine Rolle spielen.

Zu vermuten, daß für normale wie anomale Leistungen – bis hin zu kognitiven Störungen – dieselben Gene (allerdings mit unterschiedlichen Allelen) verantwortlich sind, ist das eine, diese Vermutung zu belegen das andere. Denn bisher liegen erst wenige genetische Studien speziell zu Beeinträchtigungen in verbalen Fähigkeiten und im räumlichen Denken vor.

Die meisten dieser Forschungen konzentrierten sich auf eine Leseschwäche, an der immerhin 80 Prozent der Kinder mit nachgewiesenen Lernstörungen leiden. Kinder mit einer solchen Schwäche, die auch als Dyslexie oder Legasthenie bezeichnet wird, lesen langsam, verstehen das Gelesene nur schwer und haben Probleme beim Vorlesen (siehe "Legasthenie – gestörte Lautverarbeitung", Spektrum der Wissenschaft, Januar 1997, S. 68). Einer von uns (DeFries) konnte in seinen Studien zeigen, daß Legasthenie "in der Familie liegt" und daß genetische Faktoren tatsächlich zu einer Ähnlichkeit zwischen Familienangehörigen beitragen. Ist ein eineiiger Zwilling leseschwach, dann beträgt das betreffende Risiko für den anderen 68 Prozent, für einen zweieiigen Zwilling liegt es dagegen bei nur 38 Prozent.

Hängt der Effekt nun in irgendeiner Weise mit den Genen zusammen, die mit der normalen Variation der Lesefähigkeit zu tun haben? Die Frage stellt uns vor einige methodische Schwierigkeiten. Der Begriff kognitive Störung ist von vornherein problematisch, weil die Beeinträchtigung so nicht quantitativ nach dem Grad, sondern qualitativ beschrieben wird – man hat sie, oder man hat sie nicht. Das erzeugt eine analytische Lücke zwischen Störungen einerseits und "dimensionalen" Merkmalen andererseits ( die innerhalb einer Bandbreite variieren und per Definition quantitativ sind).

Ein in den letzten zehn Jahren erarbeitetes genetisches Verfahren schließt die Lücke: Man sammelt dazu quantitative Informationen über die Verwandten von Personen, bei denen qualitativ eine Störung diagnostiziert wurde. Nach seinen Erfindern – DeFries und seinem Kollegen David Fulker am Institut für Verhaltensstudien der Universität von Colorado – heißt das Verfahren DF-Extremgruppen-Analyse.

Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Man untersucht nun nicht, ob bei einem eineiigen oder zweieiigen leseschwachen Zwilling der jeweils andere Partner des Paares ebenfalls das Problem hat, sondern man testet die Lesefähigkeit mit quantitativen Meßmethoden. Würden bei einer Legasthenie Gene mitspielen, die auch die normale Bandbreite der Leseleistung beeinflussen, sollten die eineiigen Partnerzwillinge in ihrer "Lesestärke" dichter als die zweieiigen bei der Legasthenie-Gruppe liegen. (Anders als eineiige Zwillinge sind zweieiige ja nicht genetisch identisch; sie können wie gewöhnliche Geschwister unterschiedliche Versionen eines Gens von ihren Eltern geerbt haben.)

Wie sich bei den quantitativen Tests nun zeigte, schnitt die Gruppe eineiiger Partnerzwillinge leseschwacher Kinder sogar fast so schlecht ab wie die Legasthenie-Gruppe selbst; die der zweieiigen Partnerzwillinge war zwar hierin viel besser, aber immer noch signifikant schlechter als die Zufallsstichprobe Zwillinge (stellvertretend für die Allgemeinbevölkerung; siehe Diagramm links). Somit könnten die mit Legasthenie zusammenhängenden Gene – die noch zu identifizieren sind – tatsächlich dieselben sein, die auch zu den in dieser Studie gemessenen quantitativen Dimensionen der Leseschwäche beitragen. Die DF-Extremgruppen-Analyse der Daten deutet außerdem darauf hin, daß der Unterschied in der gemessenen Leseleistung zwischen legasthenischen Kindern und Allgemeinbevölkerung etwa zur Hälfte durch genetische Einflüsse erklärbar ist.

Was die Leseschwäche angeht, könnte also durchaus ein genetischer Zusammenhang zwischen dem Normalen und dem Anomalen bestehen. Für andere kognitive Störungen allerdings gilt dies wohl nicht generell. Möglicherweise ist die Legasthenie keine distinkte Störung, sondern das eine Extrem eines Kontinuums der Lesefähigkeit – dann unterschiede sie sich von der normalen Bandbreite der Lesefähigkeit nicht qualitativ, sondern nur quantitativ (siehe Diagramm auf Seite 41). Dies alles deutet darauf hin, daß ein für die Legasthenie verantwortliches Gen wahrscheinlich auch mit der normalen Variationsbreite der Lesefähigkeit zu tun hat. Definitiv läßt sich das erst klären, wenn ein spezifisches Gen gefunden wird, das entweder mit der Lesefähigkeit oder aber mit der Legasthenie assoziiert ist. Tatsächlich sind wir und andere Wissenschaftler auf dem besten Wege dazu – mit Hilfe molekulargenetischer Methoden.

Von der Suche nach Genen und der Charakterisierung ihrer Proteine, die an spezifischen oder allgemeinen kognitiven Funktionen beteiligt sind, verspricht man sich neue Eingriffsmöglichkeiten im Falle von Störungen. Bei Mäusen und Taufliegen sind bereits einzelne Gene identifiziert, die mit Lernen und räumlicher Wahrnehmung zu tun haben. Und beim Menschen kennt man mittlerweile mehr als 100 sogenannte Einzelgen-Mutationen, die jede für sich die kognitive Entwicklung beeinträchtigen. Eine generelle geistige Behinderung entwickelt sich beispielsweise beim Marker-X-Syndrom und bei der Phenylketonurie. Letztere beruht auf Defekten in einem bestimmten Enzym-Gen; dadurch können Betroffene die aus der Nahrung stammende Aminosäure Phenylalanin nicht mehr korrekt umwandeln, was Hirnschäden nach sich zieht. Eine phenylalanin-freie Ernährung löst jedoch das Problem.

Auch im Zusammenhang mit anderen gleichfalls "monogenen" Erbkrankheiten, die hauptsächlich andere Folgen als geistige Behinderung haben, sind ycbestimmte kognitive Schwächen zu beobachten – etwa bei der Duchenne-Muskeldystrophie (einer Form von Muskelschwund), dem Lesch-Nyhan-Syndrom (einem zwanghaften Drang nach Selbstverletzung) und bei der Neurofibromatose 1 (gekennzeichnet durch gutartige Tumoren der Haut und des Nervengewebes). Defekte in dem jeweils verantwortlichen Gen dieser Erkrankungen könnten deshalb gleichzeitig mit bestimmten kognitiven Schwächen zu tun haben.

So gut wie sicher jedoch resultiert eine normale kognitive Funktion nicht aus isoliert voneinander agierenden einzelnen Genen, sondern aus dem subtilen Zusammenspiel zahlreicher Erbfaktoren. Und deren Einfluß darauf ist, nach wissenschaftlicher Ansicht, probabilistisch und nicht deterministisch. Gene, die eine solche komplexe Dimension beeinflussen – die Kognition ist nur ein Beispiel dafür –, bezeichnen Fachleute als "Orte für quantitative Merkmale" (englisch: quantitative trait loci, QTL). Die Benennung unterstreicht die quantitative Natur bestimmter körperlicher und Verhaltensmerkmale. So wurden bereits QTLs für Erkrankungen wie Diabetes, Fettleibigkeit und Bluthochdruck identifiziert, außerdem für Verhaltensprobleme wie eine Abhängigkeit von Suchtmitteln.

Gen-Marker


QTLs zu finden ist allerdings sehr viel schwieriger, als die schädlichen Mutationen einzelner Gene ausfindig zu machen, die für gewisse kognitive Störungen verantwortlich sind. Fulker hat dazu eine der DF-Extremgruppen-Analyse ähnliche Methode entwickelt: Bei ihr werden bestimmte bekannte natürliche Variationen in der Erbsubstanz DNA mit Unterschieden in quantitativen Merkmalen von Geschwistern korreliert. Da genetische Effekte an den Extremen einer Dimension leichter festzustellen sind, funktioniert die Methode am besten, wenn zumindest eine Person bei jedem betrachteten Geschwisterpaar hinsichtlich eines interessierenden Merkmals nachweislich im Extrembereich liegt. Zusammen mit dem Lernschwächen-Forschungszentrum an der Universität von Colorado in Boulder, das einer von uns (DeFries) leitet, haben Wissenschaftler der Universität Denver und des Boys Town National Hospital in Omaha das Verfahren erstmals eingesetzt, um einen QTL für Leseschwäche zu suchen.

Wie bei vielen anderen molekulargenetischen Verfahren macht man sich auch bei der sogenannten QTL-Kopplungsanalyse zunutze, daß sich Abschnitte an bestimmten Stellen auf den Chromosomen innerhalb der Bevölkerung etwas unterscheiden können, ohne defekt zu sein (siehe Kasten auf Seite 32). Wie prägnante Landmarken dienen sie den Forschern unter anderem zur Orientierung auf den Chromosomen. Alle Versionen eines solchen "Markers" werden genau wie alle Varianten eines Gens als Allele bezeichnet. Da jeder Mensch zwei Chromosomensätze besitzt – einen vom Vater, einen von der Mutter –, trägt er auch zwei Exemplare eines jeden gegebenen Markers (eine Ausnahme macht das ungleiche Paar an Geschlechtschromosomen beim Mann). Geschwister können somit zwei der vier möglichen elterlichen Allele, nur eines oder gar kein Allel eines Markers miteinander gemeinsam haben. Anders gesagt: Sie verhalten sich darin – der Reihenfolge entsprechend – entweder wie eineiige, wie zweieiige Zwillinge oder wie Adoptivgeschwister.

Bei der Suche nach einem QTL für Legasthenie ermittelten die Wissenschaftler zu jedem leseschwachen Zwilling die Leseleistung des Ko-Zwillings. Ihre Überlegung: Sofern Ko-Zwillinge schlechter abschneiden, wenn sie mit ihrem leseschwachen Partner Allele eines bestimmten Markers gemeinsam haben, dann liegt dieses DNA-Element wahrscheinlich in der Nähe eines QTLs für Leseschwäche.

Den Genen auf der Spur


Denn je enger zwei DNA-Abschnitte auf einem Chromosom beieinander liegen, desto öfter werden sie gemeinsam vererbt – sie sind "gekoppelt". Bei den zweieiigen Zwillingen sowie einer unabhängigen Stichprobe von gewöhnlichen Geschwistern aus der gesamten Studie fand sich ein solcher Marker auf dem kurzen Arm von Chromosom 6. Andere Wissenschaftler haben diese 1994 veröffentlichte Entdeckung inzwischen bestätigt, was zur Verifikation bei solchen diffizilen Analysen unerläßlich bleibt.

Damit ist allerdings erst die Chromosomen-Region eingekreist, in der zumindest eines der Gene vorkommt, die mit der Leseschwäche zusammenhängen. Das Gen selbst ist aber noch nicht identifiziert (es könnten auch mehrere sein). Wie man sieht, steht die Kognitionsgenetik an der Schwelle zu einer neuen Erkenntnisebene: Die Identifizierung von Genen, die spezifische kognitive Fähigkeiten beeinflussen, wird das wissenschaftliche Verständnis unserer Denkprozesse revolutionieren. Überhaupt wird die molekulargenetische Forschung weitreichende Konsequenzen für die Untersuchung jedweden menschlichen Verhaltens haben. Sie ermöglicht es,

- den genetischen Zusammenhang zwischen verschiedenen Merkmalen sowie zwischen Verhalten und biologischen Mechanismen zu klären,

- die Entwicklung genetischer Effekte im Laufe des Lebens besser zu verfolgen

- sowie die Interaktionen zwischen Genen und Umwelt präziser zu bestimmen.

Die Entdeckung von Genen für bestimmte Störungen oder Schwächen verspricht auch einiges für die klinische Praxis: Sie wird es erleichtern, wirksamere Therapien zu konzipieren und Risikogruppen zu identifizieren, lange bevor sich die jeweiligen Symptome zeigen. Zu verwirklichen versucht man diesen letzten Anspruch derzeit bereits mit einer Genvariante namens Apo-E4, die bei älteren Personen mit Demenz und geistigem Abbau assoziiert ist und das Risiko einer Alzheimer-Erkrankung erhöht.

Allerdings könnte das neue Wissen um genetische Risiken auch neue Probleme schaffen, etwa ein Abstempeln und eine Diskriminierung betroffener Personen. Genforschung weckt auch immer die Befürchtung, künftige Eltern würden vorgeburtliche Marker-Analysen dazu mißbrauchen, sich ihr "Designer-Baby" auszusuchen. Wir können indes nicht genug betonen, daß genetische Effekte keineswegs gleichbedeutend mit genetischem Determinismus sind und Interventionen von außen nicht ausschließen. Einige Leser mögen unsere Auffassungen kontrovers finden, wir sind jedoch der Meinung, daß die Vorteile einer Identifikation von Genen für kognitive Dimensionen und Störungen bei weitem die Möglichkeiten des Mißbrauchs überwiegen.

Literaturhinweise

Gene, Umwelt und Verhalten. Von Robert Plomin et al. Verlag Hans Huber, Bern 1999.

DNA Pooling identifies QTLs on Chromosome 4 for General Cognitive Ability in Children. Von Paul J. Fisher et. al. in: Human Molecular Genetics, Bd. 8, Heft 5, S. 915–922, Mai 1999.

Susceptibility Loci for Distinct Components of Developmental Dyslexia on Chromosomes 6 and 15. Von E. L. Grigorenko et al. in: American Journal of Human Genetics, Bd. 60, S. 27–39 (1997).

Genetics of Specific Reading Disability. Von J. C. DeFries und Maricela Alarcón in: Mental Retardation and Development Disabilities Research Review, Bd. 2, S. 39–47 (1996).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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