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Neurowissenschaften: Die chemischen Sinne

Die chemischen Sinne – der Geruchs- und Geschmackssinn – eignen sich gut, um die generellen Prinzipien und Probleme bei der Codierung sensorischer Information zu verdeutlichen. Außerdem zeigen ihre Reizweiterleitungsmechanismen viele Parallelen zu anderen Systemen. Geruchs- und Geschmackssinn haben dieselbe Aufgabe: die Wahrnehmung chemischer Verbindungen aus der Umgebung. Tatsächlich kann das Nervensystem nur durch Zusammenwirken beider Sinne Aromen wahrnehmen.
Gemüse und Obst

Einführung

Das Leben entwickelte sich in einem Meer chemischer Verbindungen. Von Anfang an trieben oder schwammen die Lebewesen in Wasser, das chemische Substanzen enthält, die Nahrung, Gift oder Fortpflanzung signalisieren. In dieser Hinsicht haben sich diese Gegebenheiten in drei Milliarden Jahren nicht sehr verändert. Die Tiere und der Mensch sind auf ihre chemischen Sinne angewiesen, um Nährstoffe (etwa durch den süßen Geschmack von Honig, das Aroma einer Pizza), schädliche Substanzen (etwa durch den bitteren Geschmack von Pflanzengiften) oder die Eignung eines möglichen Sexualpartners erkennen zu können. Von allen sensorischen Systemen ist die chemische Wahrnehmung das älteste und unter den Arten am weitesten verbreitete. Selbst Bakterien, die kein Gehirn besitzen, können so eine vorteilhafte Nährstoffquelle erkennen und sich dorthin bewegen.

Vielzellige Lebewesen müssen chemische Verbindungen sowohl in ihrem Inneren als auch in der äußeren Umgebung erkennen können. Die Vielfalt der chemischen Erkennungssysteme hat sich im Verlauf der Evolution beträchtlich vergrößert. Die uns Menschen umgebende Luft gleicht einem Meer voller flüchtiger chemischer Verbindungen. Wir nehmen aus verschiedenen Gründen chemische Verbindungen in den Mund, und wir tragen in Form von Blut und anderen Flüssigkeiten, die unsere Zellen umgeben, ein komplexes Meer chemischer Verbindungen in uns. Wir verfügen über spezialisierte Erkennungssysteme für die chemischen Verbindungen in beiden Umgebungen. Die Mechanismen der chemischen Wahrnehmung, die sich ursprünglich entwickelt hatten, um Substanzen in der Umgebung zu erkennen, dienen nun als Grundlage für die chemische Kommunikation zwischen Zellen und Organen mithilfe von Hormonen und Neurotransmittern. Jede Zelle eines Lebewesens kann auf viele chemische Verbindungen reagieren.

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit den chemischen Sinnen, die uns am vertrautesten sind: mit dem Geschmacks- und dem Geruchssinn. Obwohl beide am häufigsten in unser Bewusstsein dringen, sind sie nicht die einzigen wichtigen chemischen Sinne, die wir haben. Im ganzen Körper sind viele Arten chemisch sensitiver Zellen verteilt, die man als Chemorezeptoren bezeichnet. So warnen uns beispielsweise bestimmte Nervenenden in der Haut und in den Schleimhäuten vor schädlichen chemischen Verbindungen. Ein breites Spektrum solcher Chemorezeptoren liefert im bewussten oder unbewussten Zustand Informationen über unsere innere Verfassung: Nervenenden in den Verdauungsorganen erkennen zahlreiche Arten aufgenommener Substanzen, Rezeptoren in den Halsarterien messen den Kohlenstoffdioxid- und Sauerstoffgehalt im Blut und sensorische Endigungen in den Muskeln reagieren auf ein saures Milieu und vermitteln so bei Erschöpfung und Sauerstoffdefizit entsprechende Missempfindungen.

Geruchs- und Geschmackssinn haben dieselbe Aufgabe: die Wahrnehmung chemischer Verbindungen aus der Umgebung. Tatsächlich kann das Nervensystem nur durch Zusammenwirken beider Sinne Aromen wahrnehmen. Geschmacks- und Geruchssinn verfügen über ungewöhnlich starke und direkte Verbindungen mit den Systemen, die unsere innersten Grundbedürfnisse wie Durst, Hunger, Emotionen, den Geschlechtstrieb sowie bestimmte Formen des Gedächtnisses steuern. Die Systeme für Geruchs- und Geschmackssinn sind jedoch voneinander getrennt, und sie unterscheiden sich bezüglich der Strukturen und Mechanismen ihrer Chemorezeptoren, der Gesamtorganisation ihrer zentralen Verknüpfungen und ihren Wirkungen auf das Verhalten. Die sensorischen Informationen aus beiden Systemen werden parallel verarbeitet und erst auf späten Verarbeitungsstufen in der Großhirnrinde zusammengeführt.

Geschmack

Die Menschen haben sich in der Evolution zu Allesfressern (Omnivoren, aus den lateinischen Worten omnis für »alles« und vorare für »essen«) entwickelt, indem sie die Pflanzen und Tiere aßen, die sie gesammelt, als Aas gefunden oder selbst getötet hatten. Dafür war ein empfindliches und vielseitiges Geschmackssystem notwendig, um zwischen neuen Nahrungsquellen und potenziellen Giften unterscheiden zu können. Einige unserer bevorzugten Geschmacksrichtungen sind angeboren. Wir bevorzugen von Geburt an süßen Geschmack, was durch die Muttermilch befriedigt wird. Bittere Substanzen werden instinktiv zurückgewiesen, und tatsächlich sind viele Gifte bitter. Unsere Instinkte können jedoch durch Erfahrungen verändert werden, und wir können lernen, bitteren Geschmack zu tolerieren oder sogar zu genießen, etwa bei Koffein oder Chinin. Der Körper besitzt auch die Fähigkeit, einen Mangel an bestimmten entscheidenden Nährstoffen zu erkennen und einen Appetit darauf zu entwickeln. Wenn uns beispielsweise lebenswichtige Salze fehlen, können wir ein starkes Verlangen nach salzigen Nahrungsmitteln spüren.

Die Grundgeschmacksrichtungen

Die Anzahl der verschiedenen chemischen Geschmacksstoffe und die Vielfalt möglicher Aromen erscheinen praktisch unbegrenzt, aber wir können dennoch nur einige wenige Grundgeschmacksrichtungen erkennen. Die meisten Neurowissenschaftler gehen von fünf Geschmacksrichtungen aus. Die vier naheliegenden sind salzig, sauer, süß und bitter. Der weniger vertraute fünfte Geschmack ist umami, was auf Japanisch so viel bedeutet wie »köstlich«. Er ist durch den angenehmen Geschmack der Aminosäure Glutamat definiert; die bekannte für Speisen verwendete Form ist Natriumglutamat. Diese fünf Geschmackskategorien sind anscheinend in allen menschlichen Kulturen vorhanden, es könnte aber durchaus noch weitere Geschmacksrichtungen geben (Exkurs 8.1).

Der Zusammenhang zwischen Chemie und Geschmack ist in einigen Fällen eindeutig erkennbar. Die meisten Säuren schmecken sauer, die meisten Salze salzig. Aber die Chemie der Substanzen kann sehr unterschiedlich sein, während ihr Grundgeschmack gleich bleibt. Viele Substanzen sind süß, das reicht von bekannten Zuckern (wie der Fructose, die in Früchten und Honig vorkommt, und Saccharose, dem weißen Tafelzucker) bis hin zu bestimmten Proteinen (etwa Monellin, das im Fruchtfleisch einer afrikanischen Strauchpflanze vorkommt) und künstlichen Süßstoffen (wie Saccharin und Aspartam, wobei Letzteres aus zwei Aminosäuren besteht). Interessanterweise sind von diesen drei aufgezählten Gruppen die Zucker am wenigsten süß. Bezogen auf das Gewicht sind die künstlichen Süßstoffe und Proteine 10 000- bis 100 000-mal süßer als Saccharose. Zu den bitteren Substanzen gehören Ionen wie K+ (KCl schmeckt tatsächlich gleichzeitig bitter und salzig) und Mg2+ bis hin zu komplexen organischen Molekülen wie Chinin und Koffein. Viele bittere organische Moleküle lassen sich selbst in geringen Konzentrationen – sogar im nanomolaren Bereich – herausschmecken. Darin liegt ein offensichtlicher Vorteil, da giftige Substanzen häufig bitter schmecken.

Wenn es nur eine Handvoll grundlegender Geschmacksrichtungen gibt, wie können wir dann die zahllosen Aromen in der Nahrung wahrnehmen, wie etwa die von Schokolade, Erdbeeren oder Barbecuesauce? Erstens aktivieren unterschiedliche Nahrungsmittel jeweils andere Kombinationen von Grundgeschmacksrichtungen, was zu ihrer Unterscheidbarkeit beiträgt. Zweitens besitzen die meisten Nahrungsmittel als Ergebnis von Geschmack und Geruch, die gleichzeitig wirken, ein eigenes, bestimmtes Aroma. So kann man beispielsweise ohne Geruchssinn (bei mangelnder visueller Information) den Biss in eine Zwiebel mit dem Biss in einen Apfel verwechseln. Drittens tragen weitere sensorische Faktoren zu einer unverwechselbaren Geschmackserfahrung bei. Wichtig sind dabei Textur und Temperatur, und für den scharfen, würzigen Geschmack von Speisen mit Capsaicin, dem entscheidenden Wirkstoff von scharfen Paprikaschoten, sind Schmerzempfindungen erforderlich. Um also den charakteristischen Geschmack eines Nahrungsmittels zu erkennen, kombiniert unser Gehirn die sensorischen Informationen aus seinem Geschmack, seinem Geruch und der Art, wie es sich anfühlt.

Exkurs 8.1 Perspektive
Seltsame Geschmacksqualitäten: Fett, Stärke, Kohlensäure, Calcium, Wasser?

Gibt es noch weitere spezifische Geschmacksrezeptoren neben den klassischen fünf für salzig, sauer, bitter, süß und umami? Ja, wahrscheinlich schon. Neue Typen von Geschmacksrezeptoren zu identifizieren, hat sich als sehr schwierig erwiesen, aber nach und nach häufen sich die Belege dafür an.

Fetthaltige Speisen sind sehr beliebt, und das aus gutem Grund. Fette sind eine konzentrierte Quelle für Kalorien und essenzielle Nährstoffe. Schon lange, bis zurück in die Zeit von Aristoteles, haben scharfsinnige Beobachter die Auffassung vertreten, dass es einen grundlegenden Geschmack für Fett geben müsse. Fette stimulieren aber auch andere sensorische Systeme, was die Frage nach ihrem grundlegenden Geschmack verkompliziert. Triglyceride, die Grundbestandteile von Fettmolekülen, verleihen der Nahrung im Mund eine charakteristische Konsistenz: Sie machen sie ölig und cremig. Diese Eigenschaften werden vom somatosensorischen System wahrgenommen, nicht von Geschmacksrezeptoren. Zu den Fetten zählen auch zahlreiche flüchtige Substanzen, die wir mit unserem Geruchssinn wahrnehmen. Die Gerüche können von angenehm bis widerlich reichen. Freie Fettsäuren, die Spaltprodukte der Triglyceride, riechen bisweilen ekelhaft, man denke nur an ranziges Fett. Sie können auch reizauslösend sein, was wiederum von Rezeptoren des somatosensorischen Systems wahrgenommen wird. Aber »schmecken« wir Fette auch? Vermutlich schon. Mäuse bevorzugen Wasser, das mit bestimmten Fettsäuren angereichert ist. Ebenso besitzen Mäuse einen bestimmten Typ von Geschmackssinneszellen, der empfindlich für Fettsäuren ist und ein vermutlich als Fettsäurerezeptor fungierendes Protein exprimiert. Ein ähnlicher Rezeptor findet sich in einigen Geschmackssinneszellen des Menschen, bei denen es sich um spezielle Fettdetektoren handeln könnte.

Menschen lieben auch stärkehaltige Nahrungsmittel wie Nudeln, Brot und Kartoffeln. Stärke ist ein komplexes Kohlenhydrat, genauer ein Polymer von Glucose, dem essenziellen Zucker in unserem Körper. Mögen wir Stärke vielleicht deshalb, weil wir die darin enthaltene Glucose schmecken? Experimente an Nagetieren deuten darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. Die Vorliebe von Ratten für Zucker und Glucosepolymere scheint recht spezifisch zu sein. Im Rahmen einer neueren Studie untersuchte man an Mäusen, deren Protein T1R3 – eine entscheidende Untereinheit der Rezeptoren für süß und umami – genetisch ausgeschaltet worden war, inwieweit sie in der Lage waren, Zucker und Stärkemoleküle wahrzunehmen. Wie erwartet, schienen die Knock-out-Mäuse auf Zucker gleichgültig zu reagieren, wählten aber weiterhin gezielt stärkehaltiges Futter aus. Vermutlich besitzen zumindest Mäuse spezielle Detektoren für Stärke.

Viele Menschen mögen auch kohlensäurehaltige Getränke wie Limonaden, Mineralwasser oder Bier. In kohlensäurehaltigem Wasser sind beträchtliche Mengen Kohlendioxid (CO2) gelöst. Ähnlich wie bei Fetten können wir den Kohlensäuregehalt als bitzelndes Prickeln im Mund und auf der Zunge spüren. Mäuse und in geringerem Umfang auch Menschen können CO2 zudem riechen. Das Sprudeln ist sogar zu hören. Der CO2-Gehalt des Blutes ist ein kritischer Messwert für die Atmung und wird von speziellen Detektoren in den Arterien wahrgenommen. Aber können wir Kohlensäurehaltigkeit auch schmecken? Wahrscheinlich ja. Mäuse besitzen Geschmackssinneszellen mit einem Enzym namens Carboanhydrase, das die Verbindung von CO2 und Wasser (H2O) zu Protonen (H+) und Hydrogencarbonat (HCO3) katalysiert. Bei einem hohen Gehalt an Protonen (das heißt einem niedrigen pH-Wert) entsteht ein saurer Geschmack. Das lässt darauf schließen, dass Geschmackssinneszellen für sauer Kohlensäurehaltigkeit wahrnehmen können. Damit lässt sich die Frage zumindest teilweise beantworten. Aber wie unterscheiden wir zwischen normalem saurem Geschmack und Kohlensäurehaltigkeit? Dies ist noch nicht eindeutig geklärt. Für die Wahrnehmung von Kohlensäure könnte die entsprechende Kombination aus saurem Geschmack und somatosensorisch empfundenem Prickeln erforderlich sein.

Calcium ist bei Menschen zwar nicht unbedingt beliebt, wird allerdings für die Gesundheit der Knochen, des Gehirns und aller anderen Organe benötigt. Viele Tiere empfinden Calciumsalze offenbar als sehr wohlschmeckend, sofern sie unter Calciummangel leiden, lehnen sie hingegen ab, wenn sie ausreichend mit Calcium versorgt sind. Einer Hypothese zufolge könnten Calciumionen (Ca2+) als Kombination aus bitterem und saurem Geschmack wahrgenommen werden. Neuere Experimente deuten auch eine noch interessantere Möglichkeit an. Eigentümlicherweise ist für eine Abneigung gegen den Geschmack von Ca2+ bei Mäusen das Protein T1R3 erforderlich. Beim Menschen hingegen wird die Sensibilität für Ca2+ durch eine Substanz abgeschwächt, die an T1R3 bindet. Möglicherweise ist also T1R3 Bestandteil eines speziellen Geschmacksrezeptors für Calcium, wenngleich dies bei Weitem noch nicht nachgewiesen ist.

Und schließlich Wasser. Wasser ist für Organismen lebenswichtig, seine Aufnahme wird durch den Durst geregelt. Feuchtigkeit kann wie Fettigkeit und Kohlensäurehaltigkeit über das somatosensorische System wahrgenommen werden. Aber können wir Wasser auch schmecken? Als man Probanden destilliertes Wasser trinken ließ, beschrieben sie dieses abhängig von den Testbedingungen als süß, salzig oder bitter. Ein spezieller Geschmacksrezeptor für Wasser könnte durchaus eine sinnvolle Anpassung darstellen. Bei Insekten gibt es stichhaltige Belege für solche Rezeptoren. In den Geschmackssinneszellen von Säugetieren konnte man bislang allerdings noch keine Wasserrezeptoren nachweisen.

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