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Warkus' Welt: Wer weiß schon, was Blau ist?

Die Frage, was Farben sind, führt uns zu zwei verschiedenen Antworten. Über sie nachdenken heißt über das Menschsein nachdenken.
Ein in Aquarell gemalter bunter Kopf.

Vor vielen Jahren nahm ich als Dolmetscher an einer Führung durch die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg teil, eines der größten Bildungsinstitute für Blinde und Sehgeschädigte. Dort gibt es zum Beispiel Hilfsmittel für den Geometrieunterricht mit Schülerinnen und Schülern, die keine gezeichneten Figuren sehen können.

Als wir an einigen Gemälden in einem Korridor vorbeikamen, fragte jemand unseren (sehenden) Führer, ob denn Blinde, die schon blind geboren wurden, eigentlich eine Vorstellung von Farbe hätten. Irgendjemand meinte, da müsse der Herr schon einen Philosophen fragen. Praktischerweise war ich vor Ort, aber ich muss gestehen, dass ich nicht mehr genau weiß, was ich geantwortet habe.

Damit sind wir schon mitten im Thema. Was heißt es denn, dass wir eine Farbe sehen? Wir wissen heute, dass in unserer Netzhaut verschiedene Arten von Zapfenzellen auf unterschiedliche Wellenlängen im Spektrum des Lichts reagieren, das von einer Lichtquelle direkt oder nach Beeinflussung durch andere Gegenstände ins Auge gelangt.

Farbe: Eine messbare Größe?

Diesen Prozess können wir auch technisch nachbilden. Unter anderem gibt es Farberkenner für Blinde: kleine Geräte, die man auf einen Gegenstand richtet und die dann sagen, welche Farbe er hat. (Benutzt werden diese beispielsweise, um ohne fremde Hilfe farblich abgestimmte Kleidung aus dem Schrank zu holen oder reife von unreifen Früchten zu unterscheiden. Gute Geräte können mehr als 1000 Farbnuancen unterscheiden und benennen.)

Damit ist doch unsere Frage beantwortet, oder? Klar haben von Geburt an Blinde eine Vorstellung von Farbe: Blau ist, was dazu führt, dass der Farberkenner "blau" sagt. Man kann die Idee weiterspinnen: Ein Blinder mit einem guten Farberkennungsgerät, mit breitem Allgemein- und Fachwissen, Kenntnissen der Sehphysiologie und Umgang mit Sehenden wird theoretisch von jedem Gegenstand genauso gut sagen können, welche Farbe er hat, wie die Sehenden auch.

Aber ist das alles, genau zu wissen, was welche Farbe hat? So einfach ist es nicht. Die Erkenntnistheorie befasst sich damit, was Menschen wissen können und worüber und was die gewonnenen Erkenntnisse sicher und verlässlich macht (oder auch nicht). Und die liebsten Beispiele, an denen man diese Themen diskutiert, haben mit Farben zu tun.

Vermutlich ist das so, weil der Mensch ein Sehtier ist und weil Farben, anders als etwa Umrisse tastbarer Körper, wirklich nur mit dem Auge wahrnehmbar sind. Und wir wissen, dass nicht jeder alle Farben gleich sieht. Aber ist dieser Unterschied wichtig? Stellen wir uns jemanden vor, der von Geburt an blind ist, perfekt über Farbe Bescheid weiß und durch einen operativen Eingriff das Augenlicht erlangt: Weiß derjenige hinterher nicht mehr über Farben als vorher? Und was ist dieses Mehr?

Die Qual mit den Qualia

Intuitiv würden die meisten sagen: Er weiß hinterher wirklich mehr, nämlich, wie Farben "wirklich" aussehen; wie es sich wirklich anfühlt, Farben zu sehen. Diese Vorstellung, dass Wahrnehmungen von Farbe und alle "echten" Sinneswahrnehmungen überhaupt von einer Art undefinierbarem Empfinden von Authentizität begleitet sind, das sich durch nichts ersetzen lässt, läuft in der Philosophie unter dem Schlagwort "Qualia" (Plural von "quale", "etwas").

Ob Qualia als Phänomene eigenen Rechts existieren oder nicht, ist hoch umstritten. Die Intuition, dass man nicht wissen kann, was Blau ist, ohne je Blau gesehen zu haben, steht der Tatsache gegenüber, dass wir es eben doch wissen können. Wir können schließlich naturwissenschaftlich definieren, was es heißt, Blau zu sehen, was es heißt, dass ein Gegenstand blau erscheint. Damit lässt uns die Erkenntnistheorie die Wahl zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Sichtweisen auf uns selbst.

Wenn Sehen und Kennen nicht dasselbe ist, wenn also "echte" Wahrnehmung tatsächlich etwas ist, was keine Technik und keine Wissenschaft je ganz ersetzen kann, dann werden wir uns zum Beispiel mit intelligenten Robotern nie auf Augenhöhe unterhalten können. Diesen wird dann, ebenso wie von Geburt an blinden Menschen, immer etwas fehlen: die Qualia der Farben, die ihre Wahrnehmung vom reinen Wissen um sie unterscheiden.

Wenn beides dasselbe ist (das ist übrigens meine persönliche, als Nichtexperte für dieses Gebiet aber unmaßgebliche Meinung), dann müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass es dieses mysteriöse Mehr nicht gibt. Dann können auch blinde Menschen eine vollständige Vorstellung von Farbe haben. Aber dann ist selbst der größte sinnliche Genuss, der heftigste Eindruck, ob in der Kunst oder in der Natur, nichts anderes als die Betätigung von so etwas wie einem extrem komplexen Farberkennungsgerät.

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