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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Enthält Pi die Antworten auf alle Fragen?

Immer wieder wird behauptet, Pi enthalte jede erdenkliche Zahlenfolge. Zwar besitzen fast alle irrationalen Zahlen diese Eigenschaft – aber es ist unklar, ob das auch für Pi gilt.
Pi
Die Ziffern in den Nachkommastellen von Pi scheinen völlig zufällig. Doch enthalten sie wirklich jede erdenkliche Zahlenfolge?

Pi enthält jede Zahlenfolge, die man sich nur ausdenken kann – und damit jede erdenkliche Information unseres Universums. Egal welche Frage man sich stellt, falls sie eine Antwort hat, versteckt sie sich irgendwo in den Nachkommastellen von Pi. Solchen oder ähnlichen Aussagen begegnet man immer wieder. Doch auch wenn die meisten Mathematikerinnen und Mathematiker glauben, dass das stimmt, gibt es bisher keinen stichhaltigen Beweis dafür. Und es kommt noch schlimmer: Obwohl bekannt ist, dass fast jede irrationale Zahl alle erdenklichen Zahlenfolgen in ihren Nachkommastellen enthält, sind kaum explizite Beispiele bekannt.

Dabei erscheint das Problem auf den ersten Blick so einfach: Die Kreiszahl Pi enthält unendlich viele Ziffern hinter dem Komma, die sich niemals wiederholen – deshalb erscheint es nur logisch, dass jede Zahlenfolge darin enthalten ist. Dieser Schluss ist aber falsch. Es ist einfach, eine irrationale Zahl zu definieren, die ganz offensichtlich nicht alle Zahlenfolgen enthält, etwa: 0,101001000100001… Diese Zahl enthält unendlich viele Nachkommastellen, die sich nicht wiederholen, weil die Anzahl der Nullen zwischen zwei Einsen stets zunimmt. 0,101001000100001… kann schon allein nicht alle Zahlenfolgen enthalten, weil sie nur aus Einsen und Nullen besteht. Und selbst wenn man sich auf ein binäres Zahlensystem beschränkt, gibt es Zahlenfolgen wie »11«, die in dieser Zahl niemals auftauchen. Somit ist klar: Es genügt nicht, irrational zu sein, um alle erdenklichen Ziffernfolgen zu enthalten.

Pi erscheint aber deutlich komplexer als die konstruierte Zahl 0,101001000100001… Und tatsächlich gibt es zahlreiche Websites, auf denen man sich die Dezimalstellen von Pi ausgeben lassen kann, in der eine bestimmte Ziffernfolge (etwa der eigene Geburtstag), erstmals auftaucht. Völlig egal, welches Datum man eintippt, man wird es in den Nachkommastellen von Pi finden. Und auch wenn man sich die Verteilung der Ziffern von null bis neun in den ersten Nachkommastellen von Pi ansieht, lässt sich feststellen, dass sie etwa gleichverteilt sind.

Wegen solcher und vieler anderer Beobachtungen glauben Fachleute, dass Pi »normal« ist. Eine Zahl gilt in der Mathematik als normal, falls man jede Ziffernfolge der Länge n mit einer relativen Häufigkeit von 10n findet. Das heißt, »55« taucht in einer normalen Zahl im Schnitt genauso häufig auf wie jede andere zweistellige Zahl. Eine normale Zahl enthält in ihren (unendlich vielen) Nachkommastellen also nicht nur jede erdenkliche Ziffernfolge, sie darf zudem keine Zahlen bevorzugen.

Wenn man genauer darüber nachdenkt, was das bedeutet, wird es interessant. Da eine normale Zahl jede Ziffernfolge enthält, findet sich darin auch jede Art von Information, die sich durch eine Zahlenfolge darstellen lässt: jedes Buch, das jemals geschrieben wurde; jedes Buch, das noch darauf wartet, geschrieben zu werden; jeder mathematische Beweis (bereits bekannt oder noch unbekannt); das Rezept von Coca-Cola; Ihr Lieblingslied oder die Geschichte des Universums. Das verleiht normalen Zahlen neben spannenden mathematischen Eigenschaften auch eine interessante philosophische Bedeutung.

So gut wie jede Zahl ist normal

Das Konzept der normalen Zahl führte der französische Mathematiker Émile Borel im Jahr 1909 ein – und bewies gleichzeitig, dass fast alle Zahlen normal sind. »Fast alle« hat eine eindeutige mathematische Bedeutung: Wenn man zufälligerweise auf eine Stelle auf dem Zahlenstrahl deutet, dann ist die Zahl mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent normal. Das heißt nicht, dass es unmöglich ist, eine nichtnormale Zahl zu finden – schließlich enthält der Zahlenstrahl unendlich viele rationale Zahlen, die wegen ihrer endlichen beziehungsweise sich wiederholenden Nachkommastellen gar nicht normal sein können. Allerdings ist die Anzahl der normalen Zahlen so enorm, dass sie die Unendlichkeit der rationalen Zahlen in den Schatten stellt.

Das Erstaunliche ist allerdings, dass kaum explizite Beispiele für normale Zahlen bekannt sind. Es gibt ein paar eigens konstruierte normale Zahlen, etwa die Champernowne-Zahl, die der britische Ökonom David Gawen Champernowne 1933 einführte: 0,12345678910111213… Sie besteht aus einer Aneinanderreihung aller aufsteigenden Zahlen. Ebenfalls normal ist die Copeland-Erdős-Zahl, die Arthur Herbert Copeland und Paul Erdős 1946 entwickelt haben: 0,235711131723… und aus aufsteigenden Primzahlen besteht. Doch außer eigens solchen zu diesem Zweck erzeugten Zahlen ließen sich bisher keine Beispiele für normale Zahlen finden.

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Fachleute mutmaßen, dass π, √2, ln(2) oder e normal sind. Doch für diese vier ist noch nicht einmal klar, ob jede Ziffer unendlich häufig in den zugehörigen Nachkommastellen auftaucht. 2022 stellte die Informatikerin Emma Haruka Iwao einen Weltrekord auf, als sie den Wert der ersten 100 Billionen Ziffern von Pi veröffentlichte. Damit kennt man nun 1014 Nachkommastellen der Kreiszahl. In diesen scheint jede Ziffer etwa gleich häufig aufzutauchen – doch theoretisch könnte ab einer bestimmten Stelle die Zahl 2 nicht mehr erscheinen. In diesem Fall wäre Pi nicht normal. Bisher deutet allerdings nichts darauf hin.

Auch wenn die Frage nach der Normalität einer Zahl extrem schwer zu beantworten scheint, setzten Mathematiker noch einen drauf: Sie möchten erfahren, ob es Zahlen gibt, die »absolut normal« sind. Dabei handelt es sich um Zahlen, die in jeder Basis normal sind.

Von Normalität zu absoluter Normalität

Nehmen wir zum Beispiel Pi: Bisher haben wir uns auf die Dezimaldarstellung der Zahl beschränkt. Das heißt, man drückt Pi durch Ziffern von 0 bis 9 aus und die Reihenfolge, in der man die Ziffern aneinanderreiht, entspricht Vielfachen von zehn: 3,14… = 3 · 100 + 1 · 10–1 + 4 · 10–2 + … Doch natürlich lässt sich Pi auch durch jedes andere Zahlensystem ausdrücken, etwa in binärer Schreibweise (also nur mit Einsen und Nullen): π = 11,00100100001111110110… = 1 · 21 + 1 · 20 + 0 · 2–1 + 0 · 2–2 + 1 · 2–3 + … Hierbei entsprechen die Zahlen nach dem Komma nicht einem Zehntel oder einem Hundertstel und so weiter, sondern dem halben, vierten oder achten Teil.

Für eine binäre Zahl lässt sich ebenfalls ein Normalitätsbegriff definieren: falls sie alle Ziffernfolgen (in diesem Fall bestehend aus 0 und 1) mit gleicher relativer Häufigkeit aufweist. Analog dazu kann man normale Zahlen in anderen Zahlensystemen definieren. Wenn eine Zahl in jeder Schreibweise normal ist, gilt sie als »absolut normal«.

Bislang ist keine einzige absolut normale Zahl bekannt – auch wenn nachweislich fast alle Zahlen absolut normal sind. Nicht einmal bei der konstruierten Champernowne-Zahl oder der Copeland-Erdős-Zahl ist klar, ob sie auch abseits des Dezimalsystems normal sind. Fachleute vermuten, dass jede irrationale Zahl, die als Lösung einer Polynomgleichung entsteht (so genannte algebraische Zahlen wie √2), absolut normal ist. Bisher gibt es aber kein Beispiel einer algebraischen Zahl, die auch nur in einer einzigen Basis normal ist – oder umgekehrt in einer einzigen Basis nichtnormal ist.

Auch von der Kreiszahl Pi wird vermutet, dass sie absolut normal ist. Doch hierfür fehlen ebenfalls handfeste Beweise. Es gibt zwar etliche Formeln, mit denen sich die Nachkommastellen von Pi exakt berechnen lassen, aber die genaue Struktur der Ziffern bleibt geheim. Und wer weiß: Vielleicht gehört die Normalität oder Nichtnormalität von Pi zu den unlösbaren Fragen der Mathematik – und wird daher für immer geheim bleiben.

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