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Warkus' Welt: Das enge Band zwischen Sprache und Denken

Wie stark beeinflusst die Sprache unser Denken? Unser Kolumnist Matthias Warkus nimmt die berühmte »Sapir-Whorf-Hypothese« genauer unter die Lupe.
Kopf mit Buchstaben

Es ist zwar Winter, aber meteorologisch merkt man derzeit nur wenig davon. Insbesondere liegt kein Schnee, was den Vorteil hat, dass man auch nicht über Schnee sprechen muss. Entsprechend kann auch niemand mit der beliebten Vorstellung um die Ecke kommen, dass »Eskimos 100 verschiedene Wörter für Schnee haben«. Da dies eine philosophische und keine sprachwissenschaftliche Kolumne ist, möchte ich gar keinen Aufwand in die Widerlegung dieser spezifischen Unsinnsbehauptung stecken, die unter anderem sogar einen eigenen Wikipedia-Artikel hat.

Es lohnt sich aber, sich mit einem allgemeinen Gedanken zu beschäftigen, der häufig im direkten Zusammenhang mit solchen Behauptungen geäußert wird: nämlich jenem, dass das Denken von der Sprache in entscheidender Weise abhängt, so dass in verschiedenen Sprachen sozialisierte Menschen das gleiche Phänomen in unterschiedlicher Weise erfahren oder im Extremfall sogar ganz unterschiedliche Gedankenwelten hätten. Diese Idee hört auf den Namen »Sapir-Whorf-Hypothese«, da sie (posthum) nach dem amerikanischen Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf (1897–1941) und seinem Lehrer Edward Sapir (1884–1939) benannt wurde.

Blau, azzurro, blu

Als Beleg für die Hypothese werden zum Beispiel oft die unterschiedlichen Farbwörter angeführt, die es in verschiedenen Sprachen gibt: Wo das Deutsche nur das Grundwort »blau« kennt, gibt es im Italienischen bekanntlich zwei Grundfarben, die wir beide blau nennen würden – »azzurro« für Himmelblau und »blu« für dunkleres Blau. Dass Beispiele, in denen es um komplexere Begriffe geht, schwer zu finden sind, ist kein Zufall. Whorf selbst glaubte zwar, solche zu kennen; unter anderem war er der Meinung, muttersprachliche Sprecher der Hopi-Sprache hätten keinen oder einen ganz anderen Zeitbegriff als Sprecher indoeuropäischer Sprachen wie Englisch oder Deutsch. Diese Behauptung ist zwar ähnlich unausrottbar geworden wie die Sache mit den Eskimos und dem Schnee, aber ebenfalls völlig falsch.

Doch akzeptieren wir für einen Moment einmal die Hypothese und gehen wir davon aus, dass Menschen, die mit unterschiedlichen Muttersprachen aufgewachsen sind, tatsächlich ganz verschieden denken. Für mich als Philosophen ist vor allem interessant, was dies für unser Denken über das Denken (denn das macht einen großen Teil der Philosophie aus) und über die Welt bedeutet. Wenn unsere Erkenntnis über die Welt an unsere jeweilige Sprache gebunden ist, hieße das möglicherweise, dass über bestimmte Phänomene keine Verständigung über Sprachbarrieren hinweg möglich ist und dass daher in bestimmten Sprachen notwendig schlechtere Philosophie gemacht wird als in anderen. Es hieße vor allem auch: Durch das Erlernen einer neuen Sprache kann auch das Denken geändert werden! Der berühmte Sciencefiction-Roman »Babel-17« von Samuel R. Delany aus dem Jahr 1966 verarbeitet genau diesen Gedanken: Wer die Sprache Babel-17 spricht, gewinnt dadurch bahnbrechende geistige und sogar körperliche Fähigkeiten.

Die »harte« Version der Sapir-Whorf-Hypothese, der zufolge unser Denken eng an unsere Sprache gefesselt ist, ist spätestens seit den 1970er und 1980er Jahren außer Mode gekommen, da in der sprachwissenschaftlichen Forschung inzwischen mehr oder weniger ein Konsens darüber besteht, dass es in allen Sprachen gemeinsame Grundstrukturen gibt. »Weichere« Versionen der Hypothese, die bloß besagen, dass Sprache das Denken beeinflusst, erfreuen sich aber immer noch großer Popularität. Es wäre vermutlich auch schwer zu beweisen, dass etwas so eng mit dem Denken Verbundenes wie Sprache darauf rein gar keinen Einfluss hätte. »Sapir-Whorf-artige« Überlegungen tauchen daher immer wieder in der öffentlichen Diskussion auf, prominent zum Beispiel im Zusammenhang mit der »Eurokrise« um 2010 bis 2013 herum: Seither wurde viel darüber spekuliert, ob eine angebliche Tendenz der Deutschen, Geldschulden als moralisch bedenklich zu betrachten, mit der sprachlichen Verwandtschaft der Wörter für Schulden und Schuld im Deutschen zu tun habe, die es in den meisten anderen Sprachen so nicht gibt.

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