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Monolog eines digitalen Immigranten

"iBrain" – der Titel des Buches erinnert an ein Produkt aus dem Hause Apple. Und zeigt insofern auf, wie sehr die neuen Medien mein Gehirn bereits verändert haben.

Das Internet ist für die meisten von uns das Informationsmedium Nummer Eins. "Web 2.0" ist das Schlagwort der Stunde. An einer Berliner Universität wird bereits im Rahmen der Optimierung von Lehrveranstaltungen über Sinn und Unsinn von Web-2.0-Anwendungen diskutiert. Ahnungslos fragt eine Dozentin die ratlose Runde: "Habt Ihr schon mal von Twitter gehört? Irgendwie zwitschern die jungen Leute jetzt."

Twitter, MySpace, StudiVZ, Delicious, YouTube, eBay, Google, iChat, Amazon, Second Life, MMORPG, Wikipedia, Weblogs, Flickr, Facebook, Skype – und das sind nur die bekanntesten Vertreter der neuen Vernetzungsmöglichkeiten im Internet. Jede Woche entstehen neue Web-Applikationen. Was heute noch angesagt war, ist morgen schon out. Gary Small, Professor für Neurowissenschaften und Direktor des Memory & Aging Research Center an der University of California in Los Angeles, und seine Koautorin, die Wissenschaftsjournalistin Gigi Vorgan, gehen der Frage nach, "wie die neue Medienwelt Gehirn und Seele unserer Kinder verändert".

Der rasante technologische Fortschritt verstärkt laut Small und Vorgan die Verständigungsprobleme von Jung und Alt. Der Leser wird mit einer "größer werdenden Kluft zwischen unterschiedlich arbeitenden Gehirnen" zweier Altersgruppen konfrontiert. Während sich viele der Älteren immer noch mit Ihrem E-Mail-Programm herumärgern, ist die jüngere Generation mit den neuen digitalen Kommunikationswegen vertraut. Sie jongliert mit iPod und iPhone, lädt gleichzeitig die neuesten Filme runter und recherchiert ihre Hausaufgaben mit Google.

Die Gruppe der "Digital Natives" setzt sich aus der Generation X (zwischen 1965 und 1980 geboren) und der Generation Millenium (zwischen 1981 und 2000 geboren) zusammen. Das heißt, wenn Sie mit den meisten Begriffen im ersten Absatz etwas anfangen können, sind Sie wahrscheinlich jünger als 44 Jahre. Die älteren Generationen der Baby-Boomer und Senioren bilden die Gruppe der "Digital Immigrants". Die beiden Gruppen unterscheiden sich nicht nur in der Häufigkeit der Techniknutzung, sondern auch in der Art des Gebrauchs.

Die Autoren sind überzeugt, dass diese Unterschiede mehr als ein klassisches Verständigungsproblem zwischen den Generationen darstellen: "Was früher einfach ein Generationenkonflikt war (...) ist inzwischen zu einer riesigen Kluft geworden, durch die unsere Gesellschaft in zwei kulturelle Gruppen zu zerfallen scheint: Digital Natives, die in die Welt der Computertechnologie hineingeboren werden, und Digital Immigrants, die als Erwachsene in die Computerwelt eingewandert sind." Die "frühe, gewaltige Hightech-Stimulation des Gehirns der Digital Natives führt dazu, dass wir innerhalb einer einzigen Generation die Anfänge einer weit reichenden Hirnveränderung erleben, die jüngere und ältere Menschen voneinander trennt". (Hervorh. wie Original)

Digital Natives begegnen der heutigen Flut von Informationsreizen mit Multitasking, doch "Studien zeigen: Wenn unser Gehirn zwischen mehreren Aufgaben hin und her springt, kommt es zu kurzen Unterbrechungen in der Aktivität unserer neuronalen Verschaltungen", und andere "Studien zeigen, dass zuviel Multitasking nicht nur zu erhöhtem Stress und Aufmerksamkeitsdefiziten führen kann, sondern auch zu sinkender Arbeitseffizienz".

Wahrscheinlich interessieren sich besorgte Eltern an dieser Stelle für die Frage: "Wächst eine neue Generation mit unterentwickelten Frontallappen heran – lauter junge Menschen, die unfähig zum Lernen, Erinnern, Fühlen oder zur Impulskontrolle sind? Oder entwickeln die Digital Natives neue, höher entwickelte Fähigkeiten, die sie für herausragende Leistungen prädisponieren?"

Mit Hilfe grundlegender Forschungsergebnisse aus Psychologie, Pädagogik und Neurowissenschaft versuchen sich die Autoren der Fragestellung zu nähern. Aber auch ein dicht gesponnenes Netz aus psychologischer Grundlagenforschung ist zu löchrig, um sichere Prognosen zu treffen. Und so bleiben uns die Autoren eine abschließende Antwort auf diese Frage schuldig.

Die Aufbereitung des Buches deutet darauf hin, dass die Autoren die flüchtige Aufmerksamkeit und begrenzte Konzentrationsfähigkeit eines unterentwickelten Frontallappens fürchten, der nur leicht konsumierbare Information verkraftet. Der Leser kann in jedes Kapitel springen, ohne den Faden zu verlieren. Hier und da findet er kleine Tipps und Tricks, Checklisten und Selbsttests, die immer Gefahr laufen als oberflächlich zu gelten. Das Buch ist populärwissenschaftlich geschrieben und nicht zu verwechseln mit einem neurowissenschaftlichen Fachbuch.

Und obwohl die Autoren sowohl positive als auch negative Entwicklungen im Umgang mit der modernen Technologie anhand aktueller Forschung diskutieren, mangelt es dem Buch an Sachlichkeit. Starke Adjektive und eine teilweise einseitige Interpretation schmälern den Informationsgehalt. In einem Kapitel über menschlichen Kontakt beispielsweise steht zur Erläuterung unter dem Stichpunkt "Blickkontakt": "Blicke können eine Vielzahl von Gefühlen vermitteln, etwa Zorn, Leidenschaft oder Traurigkeit. Menschen, die an Internetsuche und E-Mail-Kommunikation gewöhnt sind, fällt es oft schwerer bei einem Gespräch Blickkontakt zu halten, weil ihre Augen sich daran gewöhnt haben, auf der Suche nach relevanten Informationen über den Bildschirm zu gleiten, statt jemanden direkt anzusehen."

Ein besonderes Interesse des Buches gilt dem Stereotyp des "chronisch und isolierten Internet-Nutzers". Hier werden Tipps zur Selbsthilfe gegeben, und wäre es ein Buch in der Kategorie "Ratgeber", wäre es eins von der besseren Sorte. Abhängigkeit, ADHS und Autismus werden fundiert im Zusammenhang mit der Thematik besprochen.

Zum Unglück der Autoren vermitteln die ausführlichen Ausflüge in den pathologischen Bereich aber auch den Eindruck, dass neue Informationstechnologien eine Gefahr für unsere Kinder darstellen. Obwohl die Autoren auch die positiven Aspekte im Umgang mit den neuen Medien beleuchten, zeugt eine unglückliche Wahl der Worte und der Beispiele von einer subtilen, aber beharrlichen Skepsis und Missbilligung gegenüber neuer Informations- und Kommunikationstechnologie. Besser als der deutsche Titel lässt der amerikanische Originaltitel die Haltung erkennen, welche in den älteren Generationen häufiger angesichts technologischer Neuentwicklungen anzutreffen ist: "Surviving the Technological Alteration of the Modern Mind."

Zudem streuen unzulässige Verallgemeinerungen und ungenaue Abgrenzungen von Begrifflichkeiten überflüssige Zweifel an der Gründlichkeit und Sorgfalt: "Der tägliche Umgang mit Hightech-Erfindungen – Computer, Smartphones, Computerspiele, Suchmaschinen wie Google und Yahoo – führt dazu, dass Hirnzellen sich verändern und Neurotransmitter freigesetzt werden, wodurch allmählich neue neuronale Bahnen in unserem Gehirn gestärkt und alte geschwächt werden. Durch die derzeitige technische Revolution findet gerade ein Evolutionsprozess in unserem Gehirn statt, der mit nie da gewesener Geschwindigkeit voranschreitet – jetzt. (...) Dieser evolutionäre Entwicklungsprozess zeichnet sich innerhalb einer einzigen Generation ab und könnte sich als ein völlig unerwarteter, aber entscheidender Fortschritt in der Menschheitsgeschichte erweisen." (Hervorh. wie Original) Ja, aber was, in Darwins Namen, hat der Begriff "Evolution" hier zu suchen, wo es sich doch offensichtlich um Mechanismen des Lernens handelt?

Im letzten Kapitel überwinden die Autoren überraschenderweise ihr Unbehagen angesichts des technologischen Fortschritts und enden mit einem optimistischen Blick in die Zukunft: "Dieses (künftige) Gehirn wird technikerfahren und bereit sein, Neues auszuprobieren – doch es wird auch in der Lage sein, erfolgreich zu multitasken und volle Konzentration aufzubringen, und es wird über fein abgestimmte verbale und nonverbale Fähigkeiten verfügen." (Hervorh. wie Original)

Die Veränderung durch den digitalen Fortschritt ist ein hoch brisantes Thema unserer Gesellschaft. Die Autoren erarbeiten aus ihren dargestellten Grundlagen und aktuellen Studien aus Hirnforschung und Psychologie Zusammenhänge zwischen neuronalen und sozialen Veränderungen, können aber in der Zusammenführung der Fakten und ihrer Interpretation nicht überzeugen. Dieses Buch ist als eine erste populärwissenschaftliche Annäherung an die Thematik zu empfehlen.


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