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Psychoanalytische Gründerjahre

Dazu gehört Mut: Noch ein Buch über die Geschichte der Psychoanalyse zu schreiben – zu einem Thema also, das bereits eine Vielzahl von Autoren beleuchtet haben. Kann der Psychiater und Psychoanalytiker George Makari, Direktor des Instituts für Psychiatriegeschichte an der Cornell University in Ithaca (USA), dazu etwas Neues beitragen? Die Frage nach dem Stellenwert der Psychoanalyse versuchten ihre Befürworter und Kritiker laut Makari oft anhand der Biografie von Sigmund Freud (1856 –1939) zu beantworten. Der Autor zeigt eine Alternative auf: Er zieht ihre gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, medi­zi­nischen und philosophischen Ursprünge heran und versucht so, die Psychoanalyse "als eine Sammlung von Ideen und als eine Bewegung zu lokalisieren".

Diesen Anspruch erfüllt er voll und ganz. In erzählerischem Stil zeichnet der Autor die Vernetzung zwischen Psycho­analyse und Zeitgeschehen nach. Während die Theorie zu Beginn vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit Medizin und Kirche zu begreifen ist, durchläuft sie Anfang des 20. Jahrhunderts eine starke Wandlung und wird nach dem Ers­ten Weltkrieg zu einer gesellschaftsreformerischen Bewegung.

Makaris Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste beschreibt, wie sich Freud mit der medizinischen Forschung in Frankreich, mit der Psychophysik in Deutschland und mit den neu entstandenen Sexualwissenschaften beschäftigte und so zu seinem ersten theoretischen Entwurf gelangte. Freud bemühte sich in dieser Phase nach Kräften, sein Denken in der Wissenschaft zu verankern und zugleich seinen revolutionären Ansatz zu vermitteln. Als Erster brachte er die Entstehung psychischer Probleme jenseits organi­scher Störungen mit sexuellen und unbewussten Konflikten in Zusammenhang – ein gewagtes Unterfangen angesichts des in dieser Zeit herrschenden Positivismus. Von Kühnheit zeugen vor dem Hintergrund der antisemitischen Ressentiments im Wien der damaligen Zeit auch seine Versuche, die Sexualität losgelöst von Religion und Moral zu diskutieren. Trotz einer Vielzahl scharfer Kritiker fand Freuds Denken immer breitere Zustimmung.

Im zweiten Teil beschreibt Makari, wie sich die Psychologische Mittwochsgesellschaft bildete, ein Zirkel von Medizinern und anderen an der jungen Psychoana­lyse Interessierten, und wie schließlich auch die ersten internationalen Begegnungen stattfanden. Freuds Theorie breitete sich über Europa und bis in die USA aus – mit ihren Schülern Karl Abraham in Berlin, Eugen Bleuler und Carl G. Jung in Zürich, Ernest Jones in London und Abraham Brill in New York gab es in der westlichen Welt viele kleine Gruppierungen, die die psychoanalytische Denkweise entdeckten und unterstützten.

Der Autor stellt die Bedeutung der ers­ten Schüler Freuds für die Etablierung der Psychoanalyse heraus und zeichnet diese aus seiner US-amerikanischen Perspek­tive nach. Dabei lässt er den Züricher Einfluss etwas schwergewichtiger erscheinen als manch europäischer Geschichtsschrei­ber. Eine gewisse Sonderstellung der Zü­richer Gruppe um C. G. Jung (1875 – 1961) wurzelte demnach in der Sorge Freuds, eine Dominanz jüdischer Analytiker könne sich für den Stellenwert der Theorie nachteilig auswirken. 1914 kam es dennoch zu einer ersten Spaltung der internationalen Vereinigung, und die Züricher entwickelten ihre eigene analytische Theorie weiter.

Der dritte Teil widmet sich den radikalen Veränderungen, die Freud während des Ersten Weltkriegs in der Theorie vornahm, sowie den wichtigsten Entwicklungslinien der analytischen Praxis bis hin zur Formulierung von Ausbildungsstandards. Makari macht deutlich, dass die Psychoanalyse sich nicht nur als Theorie, sondern auch als therapeutische Praxis gewandelt hat, und vollzieht die Konflikte innerhalb der Bewegung nach.

Das Buch vermittelt einen detaillierten Eindruck des kulturellen und wissenschaftlichen Zeitgeistes in Europa von 1885 bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ist damit nicht nur für Fachleute spannend. Der Autor hat eine besondere Herangehensweise gewählt: Er beschreibt die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse nicht aus dem Leben ihres Begründers heraus, sondern anhand der geschichtlichen Einflüsse, denen Freud ausgesetzt war, und der Reaktionen, die er bei seinen Zeitgenossen auslöste. Das macht das Buch zu einem herausragen­den Beitrag der psychoanalytischen Geschichtsschreibung.

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  • Quellen
Gehirn & Geist 3/2012

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