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Warme Worte

Unter Wissenschaftsjournalisten erfreut sich das Thema Weisheit in jüngster Zeit offenbar besonderer Beliebtheit: Nach Kristin Raabes "Oma Hilde, ­Sokrates und der Dalai Lama" (siehe Rezension in G&G 11/2010, S. 83) sowie dem umfangreichen Band "Weisheit" von TV-Moderator Gerd Scobel (G&G 1-2/ 2009, S. 84) unternimmt nun "Geo"-Redakteurin Hanne Tügel den nächsten Versuch, sich dem schillernden Begriff zu nähern. Sie hatte sich bereits 2006 in einer Artikelserie in "Geo" den geistesgeschichtlichen Wurzeln und praktischen Anwendungen des Weisheitskonzepts gewidmet. Nun präsentiert sie die Ergebnisse ihrer Recherchen noch einmal in ausführlicher Form.

Die Journalistin Tügel stellt gleich zu Beginn ihres Buchs klar: "Statt eindeutiger Analysen sind eher Anregungen, ­Annäherungsversuche und Anekdoten zu erwarten." Die insgesamt 17 Kapitel umkreisen nacheinander die verschiedenen Ideale und Wertvorstellungen, Beschreibungen und Wege zur Weisheit. Wir begegnen darin so gut wie allen, die etwas zum Thema zu sagen hatten: vom biblischen König Salomo bis zu den Weisheitsforschern der Gegenwart, die dem Phänomen mit Fragebogen und Labortests zu Leibe rücken, von den Philosophen der Lebensklugheit wie Sokrates, Platon oder Augustinus bis hin zu den Traumpfaden der australischen Aborigines und dem chinesischen "Wu wei" – der fernöstlichen Variante des "Loslassens". So ergeben sich im Lauf der Lektüre viele Einblicke in die menschliche Suche nach dem "richtigen Leben".

Tügels Darstellung zeichnet sich vor allem durch ihren weichen, einfühlsamen Ton aus. "Lebenstüchtig werden. Sich selbst an die Hand nehmen – das sind stimmige Umschreibungen für die ›kleine Weisheit‹ im Privaten. Für den Mut zur Selbstverantwortung und Selbstfürsorge. Für die Kraft, sich nicht vom Leben überrollen, vereinnahmen, auffressen zu lassen. Für Innehalten. Für Bewusstheit." Eingesponnen in einen Kokon aus warmen Worten gleitet der Leser förmlich durch die Jahrhunderte und Kulturen.

Das mag nicht jedermanns Sache sein – doch eine praktische Do-it-yourself-Anleitung nach dem Motto "So werden Sie weise!" wäre andererseits auch kaum denkbar. So besteht eine der wichtigsten Erkenntnisse der psychologischen Weisheitsforschung (siehe auch G&G 12/ 2009, S. 34) gerade darin, dass sich dieses Talent nicht auf eine einfache Formel bringen lässt. Die bekannte Definition von Weisheit als "Expertenwissen über die fundamentalen Dinge des Lebens", die der Bildungsforscher Paul Baltes einst zur Grundlage des Berliner Weisheitsprojekts machte, bringt diese Unschärfe zum Ausdruck.

Es liegt also in der Natur der Sache, dass letzte Antworten auf die drängenden Fragen unseres Alltags nicht zwischen Buchdeckeln zu finden sind. Und so wäre es auch zu viel erwartet, wollte man aus der Lektüre konkreten Rat für das eigene Leben schöpfen. Doch Hanne Tügel zeichnet anschaulich und klug nach, was weise Menschen quer durch alle Epochen und Erdkreise auszeichnet – nämlich vor allem Mitgefühl, Humor, Toleranz und Gelassenheit. Ein Buch, das Lust macht, sich davon eine Scheibe abzuschneiden.

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  • Quellen
Gehirn & Geist 3/2012

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