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Kolumnen: De cubito

Lilith
Das klingt schon mal nicht gut, oder? So nach Dekubitus, nach wundgelegen und nach Krankheit. Dabei will ich was über den Ellenbogen schreiben – de cubito heißt tatsächlich "Über den Ellenbogen". Das ist der Titel der Glosse.

Der Ellenbogen – er hat keine rechte Lobby. Unter den erogenen Zonen des menschlichen Leibes rangiert er sicher an hinterer, wenn nicht an letzter Stelle. Es gibt Fuß-Fetischisten, Brustanbeter, Gesäß-Genießer, ja, selbst das (männliche) Knie, das Gegenstück zum Ellenbogen an der unteren Extremität, hat seine Verehrer. Im angelsächsischen Raum zumindest, denn dort gibt es "knobbly knee contests" (Knubbel-Knie-Wettbewerbe). Aber der Ellenbogen? Fehlanzeige, soweit ich sagen kann. Nur Negativa: "Ellbogengesellschaft".

Dabei hat der Ellenbogen durchaus seinen Charme. Mal sehen, ob ich ihn hervorkitzeln kann. Allzu erotisch aber, so fürcht' ich, wird es nicht werden. Mehr etymologisch und technisch und sogar ein wenig theologisch.

Cubitare und die Reize der Succuba

Die Wunde, die man mit dem Cubitus, dem Ellenbogen also, assoziiert, hat ihre Wurzeln in den antiken Tischsitten. Dort lag man zu Tische ("Gelage"), und wenn man das tut – also im Liegen essen, trinken und reden –, dann stützt man sich ganz automatisch auf dem Ellenbogengelenk ab. Cubitare (oder cubare) heißt "liegen", der Ellenbogen ist das "Liegegelenk". Was kann denn das arme Gelenk dafür, dass in der Medizin das Wort cubitare ansonsten hauptsächlich in unerfreulichen Zusammensetzungen auftaucht?

"Inkubationszeit" einer Infektion, der Dekubitus des Bettlägerigen – ja, könnt' er sich noch auf dem Ellenbogen aufstützen, dann hätt' er den Dekubitus vermutlich nicht, der arme Patient. Aber auch sonst ging's dem Verbum cubitare dreckig. Der Incubus und die Succuba (siehe Fußnote 1) sind üble Dämonen, verbatim der "Hineinleger" der eine, die "Drunterliegerin" die andere: Das sind Teufel, die, als Männlein und Weiblein verkleidet, ihre Opfer zu unkeuschen Handlungen verführen wollen. Näheres dazu findet man vermutlich im "Malleus maleficatorum", dem Hexenhammer (2).

John Collier: Lilith | Das ist Lilith, gemalt von John Collier, 1887. Ich hab' sie natürlich nur wegen ihrer schönen Ellenbogen hier hereingestellt.
Lilith ist eine schillernde mythologische Figur. Einst Gottheit, verkam sie in der Kabbala und der christlichen Dämonologie zur Teufelin, zur Succuba.
Das wäre er also, der finstere Assoziationsraum, der sich auftut, wenn man Cubitus denkt. Vielleicht mag ihn deshalb keiner so recht leiden. Probieren wir es dennoch – nehmen Sie doch mal Ihren Ellenbogen in Augenschein, betasten Sie ihn ein wenig, schau'n wir mal, was wir da so finden.

Der Ellenbogen im Selbstversuch

Auf der Rückseite ist ein Knochenvorsprung. Er gehört zu einem der Unterarmknochen, der Elle nämlich, und heißt Olecranon. Und das wieder heißt: "Ellenbogenkopf". Über dem Olecranon ist die Haut meist stark verhornt (eben weil man sich oft dort abstützt), und sie ist ganz leicht gegen die knöcherne Unterlage verschiebbar. Zwischen der Haut und dem Knochen ist dort nämlich ein Schleimbeutel. An der analogen Stelle des Knies, direkt über der Kniescheibe, ist übrigens auch so ein Schleimbeutel, eine Bursa. Die kann sich entzünden, wenn man die Kniescheibe zu stark belastet ... Die alten Mediziner nannten das ein "Nonnenknie". Zu heftig auf den Knien herumgerutscht. Seltsamerweise entzündet sich die Bursa über dem Olecranon eher selten – man sieht: Die Popularität eines Organs steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner Störanfälligkeit. Knie, Hirn, Herz, Zeugungswerkzeuge – öfter kaputt, entsprechend populär.

Innen und außen am Ellenbogen sind noch mehr knöcherne Höcker zu tasten. Die gehören jetzt zum Oberarmknochen, heißen Epicondylus medialis und lateralis humeri und sind berühmt, weil sie Ärger machen können. Stichwort Tennisarm, Stichwort Golferarm. Natürlich: Nicht die Epicondylen selbst gehen kaputt – es ist das Bindegewebe der Sehnen, die an diesen Knochenvorsprüngen befestigt sind, das sich bei Überlastung entzündet. Der berühmtere von beiden Epicondylen ist natürlich der mediale, innere Epicondylus: Klopfen Sie bei gebeugtem Arm mal von der Rückseite her dagegen, dann bizzelt's hinab bis in den kleinen Finger. Genau, das ist der "Musikantenknochen", das ist der Nervus ulnaris, der hier den Epicondylus medialis umrundet und der sein Missfallen ob der Klopferei mit schmerzlichen Empfindungen kundtut. Auf der Innenseite, in der Ellenbeuge, hätten wir dann noch diverse Venen direkt unter der Haut (Rete venosum cubiti), und die Tatsache, dass die Ärzteschaft bevorzugt in jene pikt, macht den Ellenbogen insgesamt auch nicht populärer.

Mechanische Reize

Nein, der wahre Charme des Ellenbogens liegt im Inneren, in seiner knöchernen Konstruktion. Die ist über die Maßen elegant, und wenn Sie auch nur ein wenig Spaß an der kühlen Schönheit mechanischer Konstruktionen haben, dann sollten Sie hier weiterlesen.

Sie kennen diese dämlichen Gelenke, die man an Fenstern, die man öffnen und kippen kann, unten am Rahmen hat? Die also zum einen als reines Scharnier fungieren sollen (Fenster auf und zu), zum andern aber auch eine Drehung des Fensters um eine quere Achse (gekippt/geschlossen) ermöglichen? Die, mit anderen Worten, Bewegungen um zwei Achsen erlauben, die senkrecht aufeinanderstehen? Und die – so geht's mir zumindest in meiner Altbauwohnung – permanent im Eimer sind, ausgenudelt und zerschlabbert, so dass jede Fensteröffnung zum Abenteuer wird – fällt es mir jetzt entgegen oder nicht?

Ellenbogen | Alt, schon ein wenig vergilbt, ein paar Stockflecken: Umso schöner – das Skelett des Ellenbogens in einer Ansicht von vorn.
Blau: Drehachse der Speiche (Radius).
Rot: Drehachse des ganzen Unterarms.
Grün: Die oben im Text erwähnten Epicondylen – der Epicondylus ulnaris ist der innere, der "Musikantenknochen".
Solch ein Gelenk ist der Ellenbogen. Aber: Es funktioniert! Trochoginglymus nennen die Anatomen so ein Gelenk, ein "Dreh-Scharniergelenk". Im Gegensatz zu vielen anderen Gelenken des menschlichen Organismus ist das des Ellenbogens wirklich sauber konstruiert. Anderswo, im Schultergelenk zum Beispiel, herrscht schauerliches Geschlabber, die Knochenenden passen gar nicht recht aufeinander, die Gelenkkapsel umschlackert das Ganze wie eine ausgeleierte Achsmanschette die Antriebsgelenke am Auto, und es ist nur der Aktion der umgebenden Muskeln geschuldet, dass der Oberarmknochen nicht einfach aus dem Gelenksockel am Schulterblatt herausfällt.

Im Ellenbogengelenk passen die Knochenenden wirklich gut ineinander, man sieht es in der Abbildung. Die Mechaniker unter uns (liest hier einer mit?) würden das eine "saugende Passung" nennen. Trotzdem – das gilt für alle menschlichen Gelenke –, die Sache würde glatt auseinanderfallen, gäbe es da nicht noch eine bindegewebige Gelenkkapsel (in der Abbildung nicht dargestellt), die die Knochenenden zusammenhält.

Beugen und Strecken des Unterarms um die im Bild rot hervorgehobene Achse: Das ist klar. Aber warum muss sich der Radius, die Speiche (links im Bild), auch noch um die blaue Achse drehen können?

Nun: Damit wir die Hand hin- und herwenden können. "Aus dem Handgelenk" können wir das nämlich nicht, das erlaubt keine Rotation, sondern nur Beugung, Streckung und Seitwärtsschwenkung. Das Wenden der Hände findet zwischen den beiden Unterarmknochen, der Elle und der Speiche, statt. Handflächen nach vorne – Elle und Speiche liegen parallel. Handflächen nach hinten – Elle und Speiche liegen überkeuz. Wobei der Radius jeweils etwa eine Vierteldrehung um die blaue Achse macht.

Anbetungen

Venerable Mechanik, anbetungswürdige Anatomie? Na ja – ganz gut gemacht. Deutlich weniger störanfällig als der andere Trochoginglymus, den wir haben, nämlich das Knie. Aber das trägt ja auch mehr Last.

Trotzdem – Anbetung. Der Ellenbogen ist auch das Gelenk des Betens. Des Betens der antiken Heiden aber. Die falteten keineswegs die Hände und senkten den Blick, nein, sie beteten mit ausgebreiteten, um 90 Grad angewinkelten Unterarmen und mit nach oben gekehrten Handflächen. Und mit Blick gen Himmel. Damit sie, so nehm' ich an, die Wunschdinge, die da vom Himmel fallen sollten, gleich sehen und auffangen konnten, was mit gefalteten Händen und demütig geneigtem Haupt ja nun schlecht geht.

Ob aber damals beim Beten je mehr vom Himmel fiel als heute: Das weiß ich nicht.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:

(1) Seltsam – meist nennt man den weiblichen Dämon, der die Männer verführt, den Succubus. Ist aber doch eine Frau – Succuba erscheint mir also logischer.

(2) Ich kann es mir an dieser Stelle nicht verkneifen, noch auf die Prüderie der Missionare der Hexenjagd und die Beschränktheit der Dämonenbenenner zu verweisen. Subcuba, Succuba – sub heißt "unter". Wer, zum Teufel, sagt denn, dass die schöne Lilith immer unten liegen muss? Kennt der Teufel nur die Missionarsstellung? Sicher nicht. Aber die Missionare scheinen keine andere zu kennen. Und: Sollten sie – in praxie – nicht eigentlich gar keine kennen?

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