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Gott im Oberstübchen

Glaube als Symptom der Schläfenlappenepilepsie? Religion als "Reproduktionsvorteil"? Die neuro- und evolutionsbiologischen Wurzeln dieser Phänomene diskutieren Wissenschaftler seit Jahren. Nachdem der von Michael Blume mitverfasste Band "Gott, Gene und Gehirn" in Fachkreisen Anerkennung fand, erscheint nun seine um zwei Kapitel ergänzte Dissertation als Buch.

Der Religionswissenschaftler sichtet darin zunächst die Verdienste und Irrtümer von Neurotheologen der ersten Stunde. Zu jenen Wissenschaftlern, die neuro- und evolutionsbiologische Befunde überinterpretierten, zählen laut Blume der Biologe und Religionskritiker Richard Dawkins sowie Michael Persinger von der Sudbury University in Ontario, Kanada. Der Psychologe rief bei seinen Versuchspersonen spirituelle Erfahrungen hervor, indem er ihren Schläfenlappen elektromagnetisch stimulierte, und erklärte die Existenz Gottes daraufhin zu einer Illusion des Gehirns. Nicht nur war dieser Schluss logisch unzulässig, sondern darüber hinaus ergab eine Wiederholung des Experiments, dass die mystischen Gefühle auch bei einigen Kontrollpersonen auftraten, denen man weismachte, sie seien ebenfalls den Magnetfeldern ausgesetzt worden.

Blume selbst fühlt sich methodisch dem Agnostizismus verpflichtet – dementsprechend enthält er sich hier einer Meinung zur Frage nach der Existenz Gottes. Die meiste Aufmerksamkeit widmet er dem Neurobiologen Andrew Newberg, der jede (und damit auch jede religiöse) Erfahrung für eine Konstruktion des Gehirns hält. Doch bedeute dies laut Newberg gerade nicht, dass man sie deshalb als bloße Illusion abtun könne, denn sonst müsste das zum Beispiel auch für das Verspeisen eines Apfelkuchens gelten. Im Gegenteil: Mystische oder spirituelle Erfahrungen eröffneten den Zugang zu einer höheren Realität. Doch diese Annahmen seien nicht beweisbar, kritisiert Blume.

Gleichzeitig reduziere Newberg den Ort der Religiosität auf das Gehirn. Mystische Erfahrungen wie das Gefühl des Einsseins mit der Welt erkläre der US-Forscher damit, dass etwa bei der Meditation der obere Scheitellappen weniger aktiv sei – eine Region, die an der Orientierung im Raum beteiligt ist. Obwohl Newberg spirituelle Erfahrungen auf diese Weise neurobiologisch erklärt, glaubt er, dass sie gleichsam das Tor zu einer höheren Wirklichkeit bilden.

Dass diese Kinderkrankheiten der Neurotheologie heute größtenteils überwunden sind, zeigt Blume in den abschließenden beiden Kapiteln. Aktuelle Ansätze berücksichtigen beispielsweise, wie komplex religiöse Erfahrungen sind: Weder lassen sie sich nur einer bestimmten Hirnregion zuschreiben noch dürfe man sie überhaupt als Produkt eines einzelnen Gehirns verstehen – vielmehr seien sie von der Gesellschaft geprägt. So schimmert im letzten Kapitel durch, dass Blume Glaube und Religion evolutionsbiologisch herleitet: aus dem Überlebensvorteil derer, die an eine höhere Macht glauben. Diese Meinung muss man nicht teilen, um die gut geschriebene Doktorarbeit dennoch zu schätzen.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 12/2009

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