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Keine Angst vor nichts

Ein Serienmörder, der fast ein Dutzend Prostituierte erdrosselte, bekommt im Gefängnis Post von zahlreichen Verehrerinnen. Ein Sektenführer beutet seine Anhänger schamlos aus, und dennoch folgen sie ihm bis in den Tod. Ein Vergewaltiger sperrt ein junges Mädchen jahrelang in eine Kiste ein; als es sich endlich wieder frei bewegen darf, unternimmt es dennoch keinen Fluchtversuch. Dies sind nur drei von unzähligen Beispielen, die der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow in seinem Buch "Wer hat Angst vorm bösen Mann?" anführt, um die oftmals einnehmenden Qualitäten von Psychopathen zu beschreiben.

Aber warum hat das Böse für viele Menschen so eine magische Anziehungskraft? Und wie gelingt es Serientätern immer wieder, nicht nur ihre ahnungslosen Mitmenschen, sondern auch erfahrene Ärzte, Psychologen oder Richter zu täuschen? Das ergründet Bandelow auf rund 350 Seiten.

Zunächst erläutert er dem Leser die vier wichtigsten psychischen Störungen, mit denen man es bei charismatischen Serientätern am häufigsten zu tun hat: die narzisstische, die antisoziale, die Borderline- sowie die paranoide Persönlichkeitsstörung. Dabei scheut Bandelow nicht davor, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen – zum Beispiel die, dass man Menschen mit antisozialer Störung bis heute kaum wirkungsvoll therapieren kann.

So zeigt der Autor unverblümt das moralische Dilemma auf, vor dem die Gesellschaft im Umgang mit den Betroffenen letztlich steht: Für manche Täter gibt es nach Lage der Dinge keine wirkliche Heilung; sie für den Rest ihres Lebens wegzusperren, ohne das Recht auf eine "zweite Chance", erscheint allerdings auch nicht wünschenswert.

Bandelow widmet sich besonders ausführlich der Gruppe der Sexualverbrecher und ihren Opfern. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem das Stockholm-Syndrom, an dem sich beispielhaft veranschaulichen lässt, warum sich manche "Sexsklaven" selbst nach jahrelanger Gefangenschaft regelrecht zu ihren Peinigern hingezogen fühlen.

Negativ fällt in diesem Kapitel das freimütige Zurschaustellen von Gewalt auf. So beschreibt Bandelow oft über mehrere Seiten hinweg en détail, wie bekannte Straftäter ihre Opfer – die meisten davon Frauen – auf abscheuliche Art einsperrten, aushungerten, vergewaltigten und folterten.

Es mag durchaus etwas dafür sprechen, in einem Buch über psychisch gestörte Straftäter auch einen Eindruck vom Grad ihrer Grausamkeit zu vermitteln. Allerdings erweckt die Tatsache, dass sich aus den meisten dieser ausufernden Beschreibungen keinerlei neue Erkenntnisse ergeben, bald den Eindruck, es gehe dem Autor hier nur um den Schockeffekt.

Im letzten Drittel seines insgesamt dennoch lesenswerten Buchs lüftet Bandelow so manches Erfolgsgeheimnis von Sektenführern, Terroristen, Diktatoren, Todesengeln und Betrügern.

Auf eine ganz andere Art von Psychopathen legt der britische Psychologe Kevin Dutton sein Augenmerk. Bei ihm stehen nicht spektakuläre Fälle von Serienmorden im Vordergrund, sondern respektable Anwälte, Chirurgen und Vorstandsvorsitzende. Auch unter diesen herausragenden Köpfen seien psychopathische Charakterzüge nämlich häufig zu finden. Wie ihre kriminellen Pendants können sie in bestimmten Situationen ihre Angst nahezu komplett ausschalten. Sie gehen kaltblütig jedes Risiko ein und vollbringen so auf ihrem jeweiligen Gebiet wahre Höchstleistungen.

Dutton kommt zu dem Schluss, dass eine Prise Wahnsinn den meisten von uns ganz guttäte. Doch was genau macht den Unterschied aus zwischen jenen "erfolglosen Irren", die im Gefängnis landen, und solchen Psychopathen, die die Karriereleiter erklimmen? Diese Frage umkreist der Autor in zahlreichen Gesprächen mit Forscherkollegen sowie in der Schilderung von Studien, in denen die Verhaltensweisen von Psychopathen näher untersucht wurden. Duttons Hauptanliegen besteht darin, die Psychopathie schärfer von der antisozialen Persönlichkeitsstörung abzugrenzen, mit der sie oft gleichgesetzt wird. Seine Schlussfolgerungen sind zwar nicht immer überraschend und hätten insgesamt sicher kürzer präsentiert werden können. Doch auch er schreibt gut verständlich und spannend. Ob man sich nun mehr für forensische Psychologie oder "Alltagswahnsinn" interessiert, ist Geschmackssache. Leser mit schwachen Nerven sollten allerdings Duttons unterhaltsamen Bericht den Gewaltbeschreibungen Bandelows vorziehen.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 7–8/2013

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