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Psychologie im 21. Jahrhundert

Führende deutsche Psychologen über Lage und Zukunft ihres Fachs und die Rolle der psychologischen Grundlagenforschung.
Geist und Gehirn – diese beiden Begriffe bezeichnen zwei untrennbar miteinander verbundene Aspekte unserer Wirklichkeit. Sie zu erforschen, gehört zu den größten Aufgaben und Herausforderungen der Wissenschaft. Welche Zukunftsperspektiven hat dabei die Psychologie? Wird sie als eigenständige Grundlagendisziplin weiterhin unverzichtbar bleiben, oder könnten andere, möglicherweise neue Disziplinen bald ihre Aufgaben übernehmen?

Fragen dieser Art scheinen heute drängender denn je. Faszinierende Entwicklungen in Nachbardisziplinen wie etwa der Genetik, der Hirnforschung und der Evolutionstheorie, aber auch in der Philosophie haben die Psychologie in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Gelegentlich wird sogar ihre Zukunft als eigenständige Wissenschaft mehr oder weniger offen in Zweifel gezogen. Wir halten dies in der Sache für unberechtigt und für die weitere Entwicklung der Forschung schädlich. Wir glauben, die Psychologie als Grundlagendisziplin – und nur über diese wollen und können wir hier sprechen – erfüllt Aufgaben, die keine andere Wissenschaft erfüllen kann. Nach wie vor kommt der Psychologie die zentrale Rolle in dem großen Projekt zu, die Natur psychischer Prozesse und Erscheinungsweisen zu verstehen.

In ihrer 2000 Jahre zurückreichenden Ideengeschichte und in ihrer relativ kurzen 150-jährigen Vergangenheit als eigenständiges und experimentell orientiertes Fach hat die Psychologie einen reichen Ertrag an Einsichten in das Erleben und Verhalten des Menschen und damit in die Funktionen von Geist und Gehirn erbracht. Diese Einsichten haben ihrerseits eine Vielzahl fruchtbarer Entwicklungen in Nachbardisziplinen angestoßen – von der Genetik über die Neurophysiologie bis hin zu der Ökonomie. Wie konnte ein vergleichsweise so junges Fach derart erfolgreich sein?

Ein kurzer Blick zurück

Dazu beigetragen haben einige Besonderheiten in der Entstehung und Entwicklung der Psychologie. Eine wesentliche Voraussetzung war die Idee, dass die ganze Vielfalt psychischer Phänomene eine Leistung unseres komplexesten Organs, des Gehirns, darstellt. Dieser Leitgedanke stellt seit dem 17. Jahrhundert eine gut begründete und bislang konkurrenzlose Prämisse dar, die sich auch Psychologen – mal stillschweigend, mal explizit – zu Eigen machten. Sie haben dabei stets betont, dass die Komplexität psychischer Phänomene ganz unterschiedliche Analyseebenen erfordert. So entfaltet sich die Psychologie als pluralistische Wissenschaft par excellence, die den Bogen von den Natur- zu den Geisteswissenschaften schlägt.

Diese Idee einer Einheit in der Vielfalt prägte bereits die Institutionalisierung als akademisches Fach Ende des 19. Jahrhunderts durch Wilhelm Wundt (1832-1920). Von Beginn an waren unterschiedliche Zugangsweisen unter dem Namen "Psychologie" vereint: Eine der Zugangsweisen führt das Erleben und Handeln von Menschen auf subpersonale Mechanismen zurück – auf Prozesse also, die selbst keinen personalen Charakter haben.

Eine andere betrachtet Erleben und Handeln dagegen in sozialen und kulturellen Kontexten, also in suprapersonalen Strukturzusammenhängen. Zwischen diesen Zugangsweisen, die sich in den unterschiedlichen Perspektiven natur- und sozialwissenschaftlicher Forschung widerspiegeln, besteht seit jeher ein gewisses Spannungsverhältnis. Zugleich liegt in ihm jedoch bis heute der große Reiz des Fachs.

Durch die Breite und Unterschiedlichkeit ihrer Perspektiven ist die Psychologie für sich allein bereits ihrem Wesen nach interdisziplinär. Schon ihre Gründer – neben Wundt vor allem Gustav Theodor Fechner (1801-1887) und Hermann von Helmholtz (1821-1894) – verkörperten diese Interdisziplinarität. Und mit ihr ist die Psychologie in besonderer Weise gerüstet, den Dialog mit Nachbardisziplinen aufzunehmen.

Die Psychologie verfügt über gemeinsame Kernfragen, die sowohl historisch wie auch systematisch das Zentrum psychologischer Grundlagenforschung bilden. Diese Grundfragen lassen sich nur beantworten, wenn wir die Prinzipien besser verstehen, auf deren Grundlage unser Gehirn all die komplexen psychischen Phänomene und Leistungen hervorbringt, die unser Erleben und Verhalten charakterisieren. Zu den Grundfragen der Psychologie gehören: Wie funktioniert menschliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Urteilen, Problemlösen und Handeln? Welchen Prinzipien und Entwicklungen unterliegt es? Welche Entwicklungspotenziale weisen bestimmte psychische Leistungen auf? Was befähigt uns zur Sprache und zur Fantasie? Wie werden Traumata verarbeitet? In welcher Weise wird unsere soziale Identität dadurch bestimmt, dass wir uns sozialen Gruppen zuordnen?

Die Liste solcher Fragen lässt sich beliebig fortsetzen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich auf psychische Phänomene und Leistungen beziehen; sie sind somit genuine Fragen der Psychologie. Zu ihrer Beantwortung verfügen wir heute bereits über ein enormes Detailwissen, das genauso beeindruckend wächst wie das Wissen in anderen Disziplinen. Dennoch – und das ist für ein so junges Fach kaum überraschend – sind wir noch weit von einem tieferen theoretischen Verständnis der zu Grunde liegenden Prinzipien entfernt.

Die Identität des Fachs

Es gibt noch ein weiteres, eher pragmatisches Element, das seit jeher die Psychologie auszeichnet: Das Fach verdankt seine rasche Expansion und seinen gesellschaftlichen Erfolg zu einem großen Teil der Entstehung vieler Angewandter Psychologien sowie der Etablierung einer fachübergreifenden methodischen Kernkompetenz. Die Psychologie dient, wie andere Fächer, nicht nur der Aufklärung bestimmter Grundfragen, sondern auch dem gesellschaftlichen Interesse an praktischen Dienstleistungen. Daher hat sie eine Fülle von Methoden zur Lösung psychologisch-gesellschaftlicher Probleme entwickelt, die von außen an sie herangetragen werden.

Da sich praktische Probleme nicht um Grenzen zwischen Wissenschaftskulturen kümmern und oftmals so gestaltet sind, dass sie nur durch gemeinsame Anstrengungen gelöst werden können, tragen sie über das Bindeglied psychologischer Methoden dazu bei, auseinander driftende Bereiche des Fachs aneinander zu binden. Niemand innerhalb oder außerhalb der Psychologie bezweifelt, dass der vielfältige Einsatz der Angewandten Psychologie auch in Zukunft von großer gesellschaftlicher Relevanz sein wird. Keine Nachbardisziplin erhebt den Anspruch, diese Aufgabe besser zu bewältigen, als die Psychologie es vermag.

Anders stellt sich die Situation hingegen für die Psychologie als Grundlagenfach dar. Nicht nur durch Entwicklungen von Nachbardisziplinen, sondern auch durch eine zunehmende Ausdifferenzierung ihrer Teildisziplinen wird sie gegenwärtig immer häufiger mit der Frage konfrontiert, was eigentlich ihre Identität ausmacht und welche Rolle sie im Gefüge all jener Disziplinen spielen kann, die sich der Erforschung von Geist und Gehirn widmen. Wir meinen, dass sich dies in klarer und nachvollziehbarer Weise beantworten lässt. Einige Aspekte davon, wie wir uns eine solche Antwort vorstellen, wollen wir im Folgenden ansprechen.

In Vielfalt vereint

Die Psychologie gleicht in der Vielfalt ihrer Phänomenbereiche anderen Lebenswissenschaften. Folglich sollte sich ihre Entwicklung ähnlich komplex gestalten wie die von Nachbarwissenschaften etwa der Biologie, deren Teilfächer sich von der Molekulargenetik bis zur Ökologie ausdifferenziert haben, ohne ihre spezifisch biologische Identität zu verlieren.

Psychische Phänomene und Leistungen sind von einer nahezu unerschöpflichen Reichhaltigkeit, und viele ihrer komplexesten Aspekte fallen uns im Alltag überhaupt nicht auf. Zu dem, was die Psychologie zu erklären hat, gehört dreidimensionales Sehen ebenso wie die Orientierung im Raum, Konzeptbildung, Wahrnehmung von Emotionen und mentalen Zuständen anderer, Sprache, Sozialverhalten und Kultur. Zwar sind wir in der Grundlagenforschung oftmals noch auf der Suche nach den natürlichen Funktionseinheiten des Geistes, doch illustriert die große Breite der genannten Beispiele, dass es auch in der Psychologie keine "Theorie für alles" geben wird.

Vielmehr erfordern hochgradig spezifische Phänomenbereiche auch hochgradig spezifische Zugangsweisen und Arten der Theorienbildung. Die Wahrnehmungspsychologie wird im Forschungsalltag eine andere Sprache sprechen als die Sozialpsychologie, die Handlungsforschung eine andere als die Säuglingsforschung. Doch was die Art der Grundfragen und die methodische Zugangsweise betrifft, sprechen alle Bereiche dieselbe Sprache. Denn es eint sie die psychologische Herangehensweise: eine Ebene der Theorienbildung also, in der psychologische Kategorien, wie Wahrnehmungs- und Gefühlsqualitäten, Bedeutungskategorien, Erinnerungen oder Einstellungen, eine zentrale Rolle spielen.

Im Fundus an gemeinsamen Grundproblemen spiegelt sich die eigentlich psychologische Perspektive wider. Kein Bereich der Psychologie kann beispielsweise ohne ein tieferes theoretisches Verständnis dessen auskommen, wie eigentlich Kategorisierungsleistungen hervorgebracht werden oder "Bedeutung" entsteht – beides Grundlagen jeder mentalen Aktivität. Gleichwohl werden wir auch weiterhin eine dynamische innerfachliche Entwicklung beobachten mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung, die im Forschungsalltag und in der Lehre stets die Gefahren einer Entfremdung einzelner Teilfächer mit sich bringt.

Interdisziplinäre Verflechtungen

Diese Ausdifferenzierung wird verstärkt werden durch die traditionell vielfältigen Verflechtungen der Psychologie mit Nachbardisziplinen. In Genetik und Evolutionsbiologie, in Primatenforschung und Ethologie, in Hirnforschung und Informatik hat es in den letzten Jahrzehnten faszinierende Entwicklungen gegeben, welche die Beziehung zwischen der Psychologie und diesen Disziplinen heute in einer Weise befruchten, die einzigartig in der Geschichte unseres Fachs ist. Die dadurch gewonnenen Erweiterungen und Bereicherungen für eine psychologische Theorienbildung eröffnen dem Fach glänzende Perspektiven.

Dogmatische Festlegungen darüber, wie sich eine solche interdisziplinäre Verflechtung entwickeln kann und sollte und welcher Nachbarwissenschaft dabei besonderes Gewicht zukommen sollte, halten wir jedoch für unsinnig und schädlich. Die Psychologie heißt alles willkommen, was ihr bei ihrer Aufgabe helfen kann, die Natur psychischer Phänomene zu verstehen.

Wir sehen es freilich als eine Ironie der Geschichte unseres Fachs an, dass gerade die traditionelle Offenheit für relevante Entwicklungen in Nachbardisziplinen in der öffentlichen Diskussion gelegentlich als ein Verlust an Identität ausgelegt wird. Mancher scheint sogar zu glauben, andere Disziplinen, insbesondere die Hirnforschung, seien besser geeignet, Antworten auf die Grundfragen der Psychologie zu geben. Solche Auffassungen stellen eine fatale Fehleinschätzung der Rolle der Psychologie dar, die wir als Gefahr für die weitere Entwicklung des Fachs ansehen.

Das grundlegende Missverständnis, das dieser Fehleinschätzung zu Grunde liegt, bezieht sich auf das Verhältnis von Psychologie und Neurowissenschaften. Es besagt in etwa, dass die "eigentliche" Erklärungsebene für psychische Phänomene auf neurophysiologischer Ebene liege und psychologische Theorien bestenfalls vorübergehende Hilfskonstruktionen seien. Eine solche Auffassung verkennt aber die Tatsache, dass das gesamte Gefüge der Wissenschaften auf der Anerkennung jeweils eigenständiger Analyseebenen beruht. Auch die Psychologie ist eine solche eigenständige Analyseebene. Wie es nicht sinnvoll wäre zu sagen, biologische Theorien seien nur Hilfskonstruktionen bis man auf der Ebene der Quantentheorie die "eigentlichen" Erklärungen gefunden habe, so wenig sinnvoll ist es auch, genuin psychologische Fragen auf neurowissenschaftliche reduzieren zu wollen.

Ein solches Missverständnis erklärt sich häufig aus dem verbreiteten Vorurteil, psychologische Erklärungen mentaler Phänomene seien zwangsläufig "weicher" als etwa Befunde der neurophysiologischen Forschung. Eine solche Auffassung ist jedoch unsinnig und ungerechtfertigt. Psychologie und Hirnforschung beziehen sich auf ganz unterschiedliche Analyseebenen; sie können daher gar nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Vielmehr kann ihr Verhältnis – dort, wo sich Berührungspunkte bieten – nur das einer Kooperation sein.

Populäre Missverständnisse

Leider wird auch das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie des Geistes durch das Missverständnis belastet, die "eigentliche" Erklärung psychischer Leistungen sei Aufgabe der Neurophysiologie. Dadurch ist der Psychologie in letzter Zeit eine fragwürdige Konkurrenz im Bereich der Willens- und Bewusstseinsforschung erwachsen. Die darunterfallenden Phänomene gehören mit zu den komplexesten Erscheinungsformen des Psychischen und sind seit jeher Gegenstand und Ausgangspunkt des philosophischen und psychologischen Erkenntnisinteresses. Ihre Erklärung stellt eine zentrale Aufgabe der Psychologie dar, aber sie sind in den letzten Jahren auch zunehmend zum Brennpunkt von Diskussionen in der Philosophie des Geistes geworden. In dem zurzeit modischen Dialog zwischen Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes wird die Psychologie oftmals übersehen oder gar als verzichtbar angesehen. Dies hat mittlerweile dazu geführt, dass viele Diskussionen von Ideen geleitet sind, die einschlägiges Wissen der Psychologie außer Acht lassen und allein schon deshalb aus psychologischer Sicht als ziemlich zweifelhaft erscheinen. Hier muss sich die Psychologie wieder ihrer Forschungsverantwortung besinnen und deutlich machen, welche Vorstellungen mit gesicherten Befunden in Einklang stehen und welche nicht.

Besonders nachteilige Auswirkungen auf das Verhältnis von Hirnforschung und Psychologie hat das populäre Missverständnis, die Neurowissenschaften könnten einen besser fundierten Zugang zum Verständnis psychischer Prozesse anbieten – oder könnten gar den alten Traum erfüllen, unsichtbare psychische Konstrukte (etwa emotionale oder kognitive Prozesse oder Willensakte) sichtbar zu machen. Bereits jetzt ist zu erkennen, dass diese Fehleinschätzung der Psychologie großen Schaden zufügt, und zwar in der Konkurrenz um die beschränkten finanziellen Ressourcen und Fördermittel. Zudem gehen mit ihr charakteristische Fehldeutungen der Ergebnisse von Experimenten an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Hirnforschung einher.

Die moderne Hirnforschung verdankt ihre jüngeren Impulse weniger großen Entwicklungssprüngen ihrer Theorienbildung als vielmehr bedeutenden technischen Entwicklungen. Sie hat mit Methoden wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) ganz neuartige und faszinierende Datenquellen erschlossen. Doch diese Daten – seien es das Feuern von Neuronen oder die Messung metabolischer oder elektrischer Hirnaktivität – können im Kontext psychologischer Fragestellungen nicht mehr sein als Indikatoren psychischer Prozesse. Sie sind keineswegs diese Prozesse selbst. Solange wir nicht wissen, welche physikalischen Prinzipien psychischen Phänomenen und Leistungen kausal zu Grunde liegen – sei es der Sprach- oder Zahlengebrauch, das Urteilsverhalten oder die Wahrnehmung von Intentionen anderer –, solange stellen neurophysiologische Daten nicht mehr als Korrelationen dar, die selbst wiederum einer Erklärung bedürfen.

Dies scheint uns ein zentraler Punkt im Verhältnis von Psychologie und Hirnforschung zu sein. Er lässt sich an einem Beispiel aus der Gedächtnisforschung veranschaulichen: Psychologen, die an der Funktion des Gedächtnisses interessiert sind, könnten etwa in einem Experiment untersuchen, wie Gedächtnisleistungen von der Schwierigkeit der jeweiligen Aufgaben abhängen. Ein Neurowissenschaftler hingegen mag in dem gleichen Experiment den Energieverbrauch in bestimmten Hirnregionen messen, um kausale Aussagen über Funktionen des Hippocampus zu machen – einer Gehirnstruktur, die zweifellos eine wichtige Rolle für die Gedächtnisleistung spielt.

Kooperation statt Konkurrenz

Doch ist es nun aber keineswegs gerechtfertigt, aus einem Unterschied des Energieverbrauchs im Hippocampus eine kausale Aussage über psychische Gedächtnisfunktionen abzuleiten. Sobald man nämlich die Ergebnisse einer solchen Messung für die Erklärung psychischer Leistungen verwendet, gibt man eine korrelative Beziehung als Kausalbeziehung aus – was trotz der suggestiven Kraft bunter fMRT-Bilder ein fataler und folgenreicher Denkfehler ist.

Ganz anders liegen die Dinge natürlich, wenn man die Hippocampus-Funktion direkt experimentell manipuliert, etwa durch Elektrostimulation oder teilweise operative Entfernung, und dann die psychische Gedächtnisleistung misst. Nun untersucht man nicht mehr rein korrelative Beziehungen, sondern kann im Idealfall auch kausale Abhängigkeiten zwischen Hirnfunktion und Gedächtnisleistung analysieren.

Wir dürfen also den korrelativen Charakter von Messungen der Gehirnaktivität nicht mit kausalen Erklärungen psychischer Leistungen verwechseln – weder in der Psychologie noch in den Neurowissenschaften. Würde dieser Unterschied sorgfältiger beachtet, ließen sich viele Missverständnisse und daraus resultierende überzogene Erkenntnisansprüche vermeiden. An dem genannten Beispiel wird deutlich, dass die Neurowissenschaften dabei keineswegs in Konkurrenz zur Psychologie treten. An Berührungspunkten können sie die Psychologie bereichern, so wie sich auch die Hirnforschung umgekehrt als umso erfolgreicher erweisen wird, je mehr Unterstützung sie durch sich weiterentwickelnde psychologische Modelle und Theorien erfahren kann.

Die Psychologie bleibt also unverzichtbar. Sie ist und bleibt diejenige Wissenschaft, deren zentrale Aufgabe es ist, zu einem tieferen Verständnis aller Erscheinungsweisen des Psychischen zu gelangen. Um diesem Ziel näher zu kommen, wird noch ein weiter Weg zu gehen sein – zusammen mit den Nachbardisziplinen. Ohne diese Zusammenarbeit geht es nicht, doch ohne die Psychologie geht es erst recht nicht.
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