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Keine Angst vor unsichtbaren Freunden

"Tim will auch ein Bonbon haben!" – "Tim? Ach, du meinst deinen unsichtbaren Freund!" Viele Eltern reagieren verstört, wenn der neue Spielkamerad ihres Kindes in Wirklichkeit nicht existiert. Dabei sind "imaginäre Gefährten", wie Psychologen solche Fantasiebegleiter nennen, keine Seltenheit: Etwa jeder dritte Heranwachsende hat zeitweise einen solchen unsichtbaren Freund.
Unsichtbare Bande
Anlass zur Sorge sei das nicht, betont die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke von der Universität Mainz in der Juni-Ausgabe des Magazins "Gehirn&Geist" (6/2009). Die Expertin verweist auf eine Vielzahl von Forschungen, die imaginären Gefährten durchweg eine positive Funktion in der Kindesentwicklung bescheinigen.

Besonders in schwierigen Lebenssituationen helfen Fantasiefreunde Kindern oft dabei, neue Herausforderungen zu bestehen, beispielsweise den Umzug in eine fremde Stadt, den Verlust eines Freundes oder die Geburt eines Geschwisters, das nun die Aufmerksamkeit der Eltern fordert. Mitunter kompensieren die Kleinen auf diese Weise auch Gefühle der Einsamkeit oder Zurückweisung. Meist verschwinden die unsichtbaren Begleiter irgendwann von allein, sobald echte Freundschaften geknüpft werden.

Doch imaginäre Gefährten tauchen keineswegs nur bei einschneidenden Veränderungen im Leben auf. Eine britische Studie von 2008 bescheinigte Vorschul- und Schulkindern, die Umgang mit imaginären Gefährten pflegten, überdurchschnittliche Kreativität, hohe Kommunikationsfreude und gute Empathiefähigkeit. Fantasiefreunde scheinen demnach eine ausgeprägte Form des Rollenspiels zu sein.

In der Regel nehmen imaginäre Gefährten ab dem dritten Lebensjahr Gestalt an. Sich ein Gegenüber auszudenken, setzt voraus, zwischen sich und anderen differenzieren zu können, was Kinder erst ab diesem Alter sicher können. In dieser Entwicklungsphase lernen sie auch zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Genau hier liegt offenbar der Knackpunkt: Wer einen imaginären Freund hat, weiß sehr wohl, dass dieser nicht real ist, sondern nur in der Fantasie existiert. Für Eltern kein Grund zur Panik, beruhigt Seiffge-Krenke.

Schulkinder und Jugendliche haben in der Regel keine unsichtbaren Spielkameraden mehr, sondern kommunizieren eher in Tagebüchern mit Fantasiefreunden. Mehrere Langzeitstudien ergaben, dass sie ihrem unsichtbaren Gegenüber einen Namen, ein konkretes Aussehen sowie individuelle Eigenschaften geben und ihnen eigene Sorgen und Probleme anvertrauen. Der Erfinder gestaltet und verändert seinen Tagebuchfreund oft so, wie es seinen Bedürfnissen entsprach.

So eng die Beziehung von Kindern zu manchem imaginären Begleiter auch sein mag, von ihrer Fantasie "verfolgt" werden sie nach Meinung der Forscher nicht. Sind sie den unsichtbaren Freund leid, löst er sich schlicht in Luft auf.

Über Gehirn&Geist:
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