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Angemerkt!: Auf Leben und Tod

Im amerikanischen Bundesstaat Oregon können sich sterbenskranke Patienten von ihrem Arzt Gift verschreiben lassen, um sich selbst zu töten, wenn ihr Leiden unerträglich wird. Mit Washington und Montana führten nun zwei weitere US-Staaten das Recht auf medizinische Suizidhilfe ein. Ob die ärztliche Unterstützung bei Selbstmord auch in Deutschland erlaubt werden soll, ist heftig umstritten.


Pro: Suizidhilfe ist Lebenshilfe

Schwerstkranke brauchen die Gewissheit, dass sie ihr Leben beenden können, wenn es ihnen unerträglich wird.

Edgar Dahl | Edgar Dahl ist Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Münster.
Als sich der schwerst krebskranke Physik-Nobelpreisträger Percy W. Bridgman am 20. August 1961 mit einem Schuss in den Kopf selbst tötete, hinterließ er einen Abschiedsbrief. "Es ist unanständig von unserer Gesellschaft", hieß es darin, "dass sie einen Menschen zwingt, sein Sterben selbst in die Hand zu nehmen. Dies ist wahrscheinlich der letzte Tag, an dem ich es noch tun kann."

Wie im Fall Bridgman versuchen immer wieder Menschen einem qualvollen Tod durch Selbsttötung zuvorzukommen. Auf diese Weise sterben jedes Jahr Hunderte von Menschen, die durchaus bereit gewesen wären, noch einige kostbare Wochen, Monate, ja möglicherweise sogar Jahre weiterzuleben. Alles, was sie sich wünschen, ist die Garantie, dass unsere Gesellschaft ihnen einen Weg aus dem für sie unerträglichen Leiden bietet. Das bloße Wissen um die Möglichkeit, einem als unwürdig empfundenen Sterben jederzeit entfliehen zu können, würde ihnen die Kraft geben, länger und beruhigter zu leben.

Dies ist keine bloße Spekulation, sondern basiert auf Fakten. Seit der US-Bundesstaat Oregon im Jahr 1997 den "Death With Dignity Act" erlassen hat, dürfen sich dort terminal erkrankte Patienten von ihrem Arzt ein Rezept für eine tödliche Dosis eines Barbiturats ausstellen lassen. Damit können sie ihrem Leben – sollte ihnen ihr Leiden unerträglich werden – notfalls selbst ein Ende setzen.

Zwischen 1997 und 2009 haben alles in allem 460 Patienten diese Möglichkeit des ärztlich assistierten Suizids genutzt. Das entspricht rund 40 Menschen pro Jahr. Gut ein Drittel der Patienten, die sich ein letales Medikament aushändigen ließen, haben aber letztlich gar keinen Gebrauch von ihm gemacht. So sind 2009 beispielsweise 95 Rezepte ausgestellt worden, doch nur 53 Patienten haben sich mit dem ausgehändigten Mittel wirklich getötet.

Mehr als einem Drittel der Patienten genügte es offenbar zu wissen, dass es eine Hintertür gibt – sie starben friedlich eines natürlichen Todes.

Da in der Schweiz nicht nur tödlich, sondern auch unheilbar erkrankte Patienten eine Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen können, ist die Zahl der potenziell Betroffenen bei den Eidgenossen sogar noch weit höher als in Oregon. Ähnlich wie in den USA zeigen die Statistiken der Schweizer Sterbehilfeorganisation "Exit", dass dort nur 50 Prozent der Menschen, denen eine Sterbebegleitung zugesichert worden war, wirklich von ihr Gebrauch machten.

Vielleicht noch eindrucksvoller ist diese Tatsache: Von den rund 1500 Personen, die jährlich ein Beratungsgespräch mit Mitarbeitern von "Exit" führen, rücken etwa 1000 von dem Vorhaben, sich selbst zu töten, wieder ab. Bereits ernst genommen zu werden und offen über ihren Sterbewunsch sprechen zu können, hilft offenbar zahlreichen Patienten, am Leben festzuhalten.

Dies deckt sich auch mit Zahlen, die von der Schweizer Sterbehilfeorganisation "Dignitas" veröffentlicht wurden. Rund 70 Prozent der Menschen, denen man eine Sterbebegleitung in Aussicht stellte, machten letztlich keinen Gebrauch davon. Es genügt ihnen vollauf, zu wissen, dass sie jederzeit die Möglichkeit haben, sterben zu können.

Der medizinisch begleitete Suizid ermöglicht es Menschen also nicht nur, menschenwürdig zu sterben – sondern auch menschenwürdig zu leben.



Kontra: Suizidhilfe ist unethisch

Weder Ärzte noch andere Menschen sollten genötigt werden, Patienten auf deren Wunsch hin umzubringen.

Axel W. Bauer | Axel W. Bauer ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg, Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees der Universitätsmedizin Mannheim und Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Anders als der an Krebs erkrankte Physik-Nobelpreisträger Percy W. Bridgman (1882-1961), der sich mit einem Kopfschuss das Leben nahm, meine ich: Es ist unanständig, wenn Menschen die Gesellschaft dazu zwingen wollen, auch noch den Tod für sie zu organisieren oder ihn gar herbeizuführen.

Das Argument, eine formale Garantie schmerzloser Formen von Suizidassistenz werde dazu führen, dass einige schwer kranke Menschen in der Aussicht auf diesen vermeintlichen "Notausgang" länger zu leben bereit wären, steht auf sehr wackeligen Füßen. Denn es basiert auf einer äußerst spekulativen Interpretation von Erfahrungen aus dem US-Bundesstaat Oregon und der Schweiz.

Wenn im Jahr 2009 in Oregon "nur" 53 Personen einen Suizid mit Hilfe ärztlich verschriebener Medikamente begingen, obwohl 95 solcher Rezepte ausgestellt wurden, dann bedeutet dies keineswegs, dass sich die übrigen 42 Personen ohne den "Death With Dignity Act" selbst getötet hätten. Vielmehr lassen sich die Zahlen ähnlich wie jene aus der Schweiz auch anders interpretieren: Es rüsten sich umso mehr Menschen "vorsorglich" – und offenbar unnötigerweise – mit tödlichen Medikamenten aus, je mehr ihnen der Staat den Weg dazu ebnet.

Wo ein Angebot gemacht wird, da entsteht nun einmal rasch eine entsprechende Nachfrage. Würde man alle Bürgerinnen und Bürger per Gesetz mit tödlichen Medikamenten versorgen, dann würde der Anteil derer, die davon schließlich Gebrauch machen, noch weit niedriger liegen. Doch kann das ein ernsthaftes ethisches Argument zu Gunsten des organisierten Sterbens sein?

Derzeit wird in Deutschland über die Sittenwidrigkeit der kommerziellen Beihilfe zum Suizid debattiert. Doch eine an sich gute Sache würde ja nicht dadurch schlecht, dass sie Geld kostet; umgekehrt aber lässt sich eine an sich schlechte Handlung auch nicht dadurch aufwerten, dass sie gratis zu haben ist. Die richtige Intuition, dass kommerzielle Suizidbeihilfe ethisch inakzeptabel ist, rührt von der Sache an sich und nicht von dem womöglich entstehenden finanziellen Gewinn des Sterbehelfers her.

Die Assistenz bei der Selbsttötung befördert in jedem Fall eine Handlung, die gerade nicht mit der Autonomie des Menschen legitimiert werden kann. Denn wer vor einem Suizid steht, handelt nicht selbstbestimmt, sondern – wegen der von ihm vermuteten Alternativlosigkeit – aus tiefer Verzweiflung.

Dennoch ist die Selbsttötung seit dem 19. Jahrhundert kein Straftatbestand mehr, denn im Erfolgsfall ist der Täter nicht mehr am Leben, und im Fall des Scheiterns dürfte eine zusätzliche Bestrafung – noch dazu bei einem vielleicht schwerkranken Patienten – vielfach als unbillig empfunden werden. Die Beihilfe zum Suizid ist nach dem deutschen Strafrecht deshalb nicht verboten, weil es an der strafbaren Haupttat mangelt, so dass die Paragrafen 26 und 27 des Strafgesetzbuchs (Anstiftung und Beihilfe) nicht greifen.

Wenngleich rechtlich also vertretbar, ist dies verfassungsmäßig aber keineswegs zwingend, wie ein Blick nach Österreich zeigt. Dort gilt die "Mitwirkung am Selbstmord" als eigenständiger Straftatbestand (§ 78 öStGB): "Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen." Damit ist die Mitwirkung am Suizid im Strafmaß der Tötung auf Verlangen gleichgestellt.

Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass wir uns lieber folgenlos über kommerzielle und organisierte Suizidhelfer entrüsten, anstatt das auf Dauer einzig wirksame rechtliche Mittel dagegen in die Hand zu nehmen. Wir werden bei fortwährender Untätigkeit allerdings damit rechnen müssen, dass mancher Hausarzt in nicht allzu ferner Zukunft neben der ersten auch die letzte Hilfe als Kassenleistung anbietet.

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